Jenseits der „grünen Linie“

Alle israelischen Regierungen haben bislang den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten unterstützt. Damit bescherten sie der Region vor allem ein Sicherheitsrisiko

Der Waffenstillstand, den Europäer und Amerikaner erreicht haben, wird nicht lange halten

Ein neuer Begriff wurde vom rechten Flügel der politischen Szene in Israel in Umlauf gebracht: „Oslo-Verbrecher“. Mit ihm werden Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens bezeichnet, die zur Entstehung des Osloer Abkommens von 1993 zwischen Israel und der PLO beigetragen haben. „Oslo-Verbrecher“ – so werden jetzt der Nobelpreisträger Schimon Peres und die früheren Minister Beilin und Sarid, aber auch Professoren und etliche andere genannt, die damals eine Vermittlerrolle übernommen hatten. Der Begriff klingt dem Historiker vertraut: Die Rechten brandmarkten in Deutschland die Unterzeichner des Waffenstillstands vom November 1918 als Verräter, indem sie sie als „November-Verbrecher“ bezeichneten. Wohin dies damals führte, wissen wir: Erzberger wurde ebenso ermordet wie der (jüdische) Außenminister Rathenau.

Dass der Hinweis auf einen deutschen Präzedenzfall nicht irrelevant ist, zeigt allein das Schicksal Jitzhak Rabins – „Mr. Oslo“, der am 4. November 1995 dem Anschlag eines israelischen Rechtsextremisten zum Opfer fiel. Kurz zuvor hatte ein rechtsradikaler israelischer Politiker der damaligen Opposition die Drohung geäußert: „Wenn wir zurück an die Macht kommen, werden wir mit ihnen abrechnen!“ Zwar hat er nicht von rollenden Köpfen gesprochen, doch jeder verstand, wovon er sprach. Heute sitzen jener Politiker und seine Partei in der Regierung Scharons und nehmen am Sprechchor gegen die „Oslo-Verbrecher“ teil. Der israelische Sicherheitsdienst will kein Risiko eingehen: Die Politiker Sarid und Beilin erhalten Leibwächter.

Die merkwürdige Idee, die Architekten des Osloer Abkommens als Verbrecher abzustempeln, beruht auf der seit 1993 in rechten Reihen bestehenden Annahme, das Abkommen sei von Anbeginn an zum Scheitern verurteilt gewesen, weil die PLO eine Terrororganisation und deswegen die Bewaffnung der Polizei der palästinensischen Autonomiebehörde der Hilfe zum Mord an Juden bzw. dem Landesverrat gleichzusetzen sei. Das wesentliche Problem der israelischen Öffentlichkeit seit Beginn der Al-Aksa-Intifada im September 2000 ist die zunehmende Akzeptanz dieser Annahme auch im Lager der bisherigen Linken. Dass die Intifada kurz nach dem „großzügigen Angebot“ Ehud Baraks in Camp David im Juli 2000 begann, ist in diesem Zusammenhang ein entscheidender Faktor. Auf den Einwand der Palästinenser wie auch vereinzelter jüdischer Linker in Israel hört die allgemeine Öffentlichkeit nicht: Das Problem ist nämlich die Besatzung seit 1967 und ihre Fortsetzung trotz Oslo, ja gegen den Geist von Oslo; und problematisch ist die politische Kehrtwende Israels nach der Ermordung Rabins sowohl unter der Regierung Benjamin Netanjahus als auch Ehud Baraks! Dass Baraks Angebot von Camp David von den Palästinensern nicht ernst genommen werden konnte, weil er – obwohl Vertreter der israelischen Linken – keine der im Rahmen des Osloer Abkommens den Palästinensern gegenüber eingegangenen Verpflichtungen Israels implementierte, wird nicht einmal als Denkanstoß verstanden.

Basis dieser paradoxalen Haltung sind die israelischen Siedlungen im Westjordanland: Alle israelischen Regierungen haben – links nolens, rechts volens – die Siedlungspolitik betrieben und unterstützt. Hierin unterschied sich Ehud Barak kaum von Benjamin Netanjahu. Die Siedler konnten sich im Bewusstsein der meisten Israelis das Image von idealtypischen, idealistischen und selbstlosen Pionieren des Zionismus aufbauen, die eine „heilige, nationale“ Aufgabe erfüllen. Dass es hier um ein Sicherheitsrisiko, nicht jedoch um einen Vorteil für Israel geht, wird in der Regel ignoriert. Nicht einmal die Soldaten, die im Westjordanland eigentlich nur stationiert sind, um diese Siedlungen zu schützen, hinterfragen anstelle der israelischen Öffentlichkeit diese Situation. Die stetige Ausdehnung der Siedlungen trotz Oslo ist nun ohne Zweifel allerdings das effektivste Mittel, die Palästinenser gegen das von ihnen mit Hoffnung auf Unabhängigkeit unterzeichnete Oslo-Abkommen und zu einem gewalttätigen Aufstand zu motivieren. Symbole wie die Al-Aksa-Moschee oder Ansprüche auf die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge dienten als Kristallisationspunkte, waren jedoch nicht die Ursache der jetzigen Intifada. Vielmehr ist das Fortbestehen der Siedlungen hierfür der eigentliche Grund. Und daher richtet sich die Intifada vor allem gezielt gegen die Siedlungen und ihre Beschützer. Daher wittern die Siedler bereits, was letztlich der Haupterfolg der Intifada – der Idee von Oslo – sein wird: die Einkreisung und Demontage der meisten Siedlungen. Um hier eine sachliche Diskussion über den Sinn der Siedlungen für die Existenz Israels zu vermeiden und die konsequente Schlussfolgerung aus dem blockierten Oslo-Prozess nicht ziehen zu müssen, schuf man die Parole vom „Oslo-Verbrechen, dem viele Siedler zu Opfer fielen“.

Wie schwer es ist, den Israelis klar zu machen, welche Bedeutung die Siedlungen für die palästinensische Seite haben, zeigen die interne Diskussion seit Beginn der Al-Aksa-Intifada sowie der Rechtsruck in der israelischen Gesellschaft deutlich genug. Die Siedler benutzen seit Jahren die Parole „Die Siedlungen sind überall!“, sie wollen also die übrigen Israelis überzeugen, auch Tel Aviv gelte den Palästinensern als jüdische Siedlung in besetztem Land. Sind Israelis, die nicht in den besetzten Gebieten leben, von Terroranschlägen betroffen, dann finden sich die Siedler und ihre Sympathisanten in ihrem Verständnis der Lage bestätigt.

Die Ausdehnung der Siedlungen ist das sicherste Mittel, die Palästinenser zum Aufstand zu bewegen

Nach dem Anschlag in Tel Aviv am 1. Juni, dem 21 israelische Jugendliche zum Opfer fielen, wurde es der palästinensischen Führung wohl klar, dass sie selbst von der eigentlichen Ursache der Al-Aksa-Intifada ablenkt und den Siedlern und der israelischen Rechten nur Schützenhilfe leistet. Das Einfrieren der Siedlungen als Lösung zu akzeptieren, das können Israelis nur, wenn sie dafür die Garantie erhalten, innerhalb der „grünen Linie“ in Sicherheit leben zu können. Die palästinensische Führung hat ihre Taktik wohl dementsprechend korrigiert. Der Waffenstillstand, den Europäer und Amerikaner zustande gebracht haben, ist daher nur relativ, weil die Palästinenser die Intifada gegen die Siedlungspolitik nicht einstellen werden. Es stellt sich die Frage, ob im Bewusstsein der Israelis eine Wende möglich ist, um erstens den Baustopp in den Siedlungen und zweitens das Ende der Siedlungspolitik legitimieren zu können und ob vertrauensbildende Maßnahmen auf beiden Seiten zu einer Versöhnungspolitik zurückführen können. Der ultimative Aufschrei „Oslo-Verbrecher“ aber hat die Absicht, nicht nur die Oslo-Architekten von 1993 unter Beschuss zu nehmen, sondern auch die potenziellen de Gaulles innerhalb der israelischen Rechten beizeiten einzuschüchtern. Hier werden sich dann Ariel Scharon und andere Generäle in seiner Regierung betroffen fühlen, vor deren Augen der französische Rückzug aus Algerien als Beispiel für Israel stehen mag.

MOSHE ZIMMERMANN