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Schamlos komplex

Ein seltsamer Zwitter aus Powerchord, Performancekunst und Pathos: Das großartige Konzert der amerikanischen Heavyrock- und New-Metal-Band Tool in der Columbiahalle

Manchmal ist man an diesem Abend kurz davor, ein leicht abgewandeltes Sprüchlein vor sich her zu murmeln: Eine Rockshow ist eine Rockshow ist eine Rockshow . . .

Eine schlichte Tatsache angesichts riesengroßer Marschallboxen, gigantomanischer Sound- und Lichteffekte und nicht zuletzt überquellender Merchandisestände – wenn es sich eben nicht gerade um einen Auftritt der kalifornischen Heavyrock-Band Tool handeln würde.

Wie schon mit ihren schamlos komplexen Alben und besonders den von Gitarrist Adam Jones produzierten düsteren Animationsvideos brechen Tool auch live so ziemlich jede Regel rockistischer Guidelines. Was nichts am Erfolg der Band ändert: Souverän chartete ihre kürzlich veröffentliche dritte Platte „Lateralus“, deren Vorgänger 1996 erschienen ist, im Musikgeschäft wahre Weltenalter, und souverän füllen sie Konzertarenen wie die Berliner Columbiahalle auch anderswo bis unters Dach.

Tool sind keine motherfuckin’ tough guys, die Businessplan-Mosher wie Limp Bizkit so gerne mimen. Ihr Publikum sieht zum Teil MTV-tauglicher aus als sie selbst und spiegelt dabei die irritierende Breitenwirksamkeit dieser ungewöhnlichen Band wider. Old und New Metaller gesellen sich zum Fusselbart auf der Suche nach den neuen King Crimson, und nebenan schluckt ein Grüppchen in Cord und Samt gekleideter Gymnasiasten tapfer an der Intensität, die von der Bühne über sie hinwegwalzt.

Es ist vor allem der schmächtige Sänger Maynard James Keenan, dessen Charisma einen Auftritt von Tool zu dem seltsamen Zwitter aus Powerchord und Performancekunst macht, wie es sonst vielleicht noch Nine Inch Nails gelingt oder, noch kompromissloser, noch kathartischer: Neurosis. In Keenan, der auf seinem eigenen kleinen Podest neben dem Schlagzeug eher im Hintergrund agiert und gerade dadurch unübersehbar ist, findet sich der Focus der Band. Während die restlichen Mitglieder sich eher introvertiert und konzentriert geben, ist es das minimalistische, eckige Stageacting des Sängers, in dem sich alle Nuancen von Tool vereinen.

Es gibt keine Sing-Along-Spielchen, keine peinlichen Ansagen und Animationsversuche. Flankiert von zwei Leinwänden, über die Tool-typische Visuals laufen – David Cronenberg trifft Clive Barker auf wirklich fiesen Halluzinogenen –, lebt Maynard James Keenan die Dinge vor, über die er singt.

Tool suchen nach dem Geheimnis, das den lebendigen Organismus zum Menschen macht. Die Filme und Loops sind so körperbezogen wie verrätselt: die Physis in allen erdenklichen Stadien der Geburt und Verletzung, der Mutation und Metamorphose, dazu geometrische Muster, kabbalistische Symbolik und pure Psychedelik. Keenan bewegt sich dazu, als sei er eben aus einem langen bösen Traum erwacht oder wie ein Wesen, das von sich nicht weiß, was es eigentlich ist.

Nun wird natürlich auch bei Tool während des Crowdsurfing nicht Kafka gelesen, auch der Moshpit fehlt nicht. Friedlicher und rücksichtsvoller als beispielsweise bei Korn oder Slipknot geht es aber allemal zu. Tool fordern nicht den Kollektivausraster nach Format, sondern offerieren vielmehr einen Einblick in ihre Sicht auf die Welt.

Und ganz ehrlich: Man fühlt sich am Ende sehr angenehm in die Wirklichkeit entlassen, als Maynard James Keenan das Publikum auffordert, sich immer daran zu erinnern, was es heute gefühlt habe, um daraus Positives zu erschaffen. Pathetisch? Ach, irgendwie schon. Aber angesichts der anderswo gängigen Jump-The-Fuck-Up-Platitüden fast ein Auftrag.

Wieder vor der Halle die Realitätsprüfung: Das gibt es ja auch noch alles! Wo war ich? Auf einer Rockshow? Inmitten eines Kunstwerks? ULF IMWIEHE

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