: Verscharrte Geschichte
ZeitzeugInnen berichten über Kinder von NS-Zwangsarbeiterinnen, die ihnen von den Nazis weggenommen und getötet wurden ■ Von Andreas Speit
„Die Kinder liegen unter der Hecke“, erzählt eine Zeitzeugin. 12 Mädchen und Jungen seien 1944 auf dem Friedhof der evangelischen Kirchengemeinde St. Nikolai in Jork-Borstel im Landkreis Stade „verscharrt“ worden. Von „beerdigen“ möchte die alte Frau nicht sprechen. „In Pappkartons hat man die Kinder schnell unter die Erde gebracht“, bricht sie nach 57 Jahren ihr Schweigen. Um keine „Scherereien“ zu haben, möchte sie jedoch ihren Namen nicht veröffentlicht wissen.
Es sind die Kinder von NS-ZwangsarbeiterInnen aus Osteuropa, die in kreiseigenen Entbindungs- und Kinderheimen getötet worden waren. Unmittelbar nach der Geburt waren sie ihren Müttern weggenommen worden – und wurden nicht mehr versorgt. Am 18. Juni hatte der Kreisausschuss Stade beschlossen, die Mütter finanziell zu entschädigen. Erst danach hatte jene Zeitzeugin den Mut gefunden, sich mit ihrer Geschichte an die Völkerkundlerin Heike Schlichting zu wenden. Seit knapp einem Jahr erforscht diese im Rahmen des Projektes „Alltag im Nationalsozialismus im Landkreis Stade“ das Thema.
Pastor Klaus Hellweg von der Kirchengemeinde St. Nikolai weist indes darauf hin, dass sich „im Sterbebuch der Kirche kein Hinweis findet, dass hier Kinder beigesetzt worden sind“. Schlichting sagt, dass dies „tatsächlich ungewöhnlich“ sei: „In den Sterbebüchern der anderen Stader Kirchengemeinden finden sich Hinweise.“ Die persönlichen Angaben von ZeitzeugInnen würden sich aber „mit den Angaben aus den Melde- und Sterbere-gistern des Landkreises decken“.
Neben dem Heim in Jork-Borstel unterhielt der Landkreis von 1943 bis 1945 „fremdvölkische Kinderpflegestätten“ in Balje-Hörne, Drochtersen-Nindorf und Klein Fredenbeck. „Laut den Meldeunterlagen sind 153 Kinder in den Heimen geboren worden, von denen nachweislich 63 an Unterernährung starben“, erklärt Schlichting. Dass die anderen Mädchen und Jungen überlebten, sei dennoch fraglich. Die Aufsicht der Heime unterlag einer deutschen Kreisangestellten, die getreu den Richtlinien die tödliche Mangelversorgung verwaltete. „Die meis-ten Kinder starben nach 14 Tagen einen qualvollen Tod“, führt die Völkerkundlerin aus. In dem Heim mussten auch ZwangsarbeiterInnen Dienst tun – die teilweise selbst dort entbunden hatten und nun ihr Kind sterben sehen mussten.
Die Hamburger Historikerin Friederike Littmann geht bei ihrer Untersuchung zur Zwangsarbeit in der Hansestadt davon aus, dass auch Säuglinge und Kinder aus dem Hamburger Umland in die Stader Heime verbracht wurden. Aber auch in Hamburg selbst, so die His-torikerin, „bestanden nachweislich bei den Hanseatischen Kettenwerken in Langenhorn und den Deutschen KAP-Asbest in Bergedorf Kinderheime“. Auf dem Ohlsdorfer Friedhof seien 120 Kinder von Zwangsarbeiterinnen beigesetzt. „Eine öffentliche Diskussion darüber“ so Littmann, „hat es in Hamburg bisher kaum gegeben.“
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