: „Keine dummen Sprüche vom Amt“
Die Wende brachte manch Neues: Seit zehn Jahren betreiben die Brüder und Schwestern vom Franziskanerorden im Ostberliner Stadteil Pankow eine Suppenküche. Missioniert wird nicht, dafür spülen die Mönche per Hand – weil auch das hilft
von PHILIPP GESSLER
Das ist die 274. Reportage über Armut in dieser Zeitung. Anlass: Zehn Jahre Suppenküche der Franziskaner in Berlin-Pankow. Kein schönes Thema, Armut. Sie stinkt wie der Alte mit den kurzen Hosen, wenn er seinen rechten Arm hebt. Sie ist hässlich wie die dicke Mutter mit ihren zwei Kindern, die sich hier neben den Pennern, Asozialen und Verrückten ihr Mittagessen abholt. Armut ist eklig wie der zahnlose Mann, der sein Hemd so weit aufgeknöpft hat, dass er sich ruhig in der Sonne mit seiner schmutzigen Rechten an der linken Brustwarze kratzen kann. Sie ist primitiv wie der Bärtige mit der blonden Haarmatte, der, um sich interessant zu machen, erzählt, dass er sich selbst in seinen zwei Jahren auf der Straße jeden Tag geduscht und täglich eine frische Unterhose angezogen habe. Und sie ist so ausweglos wie das Schicksal von Inge, deren Füße auf dem Tritt ihres Rollstuhls vor Wasser und Hitze angeschwollen sind wie rote Paprika.
„Eure Armut kotzt mich an“ – diesen Spruch, der Anfang der 90er-Jahre auf Edelkarossen als Aufkleber zu finden war, hätte auch der 23-jährige Giovanni Bernardone, Sohn eines reichen und angesehenen Stoffwarenhändlers in Umbrien, unterschreiben können. Nicht, dass sich der redegewandte Jüngling diese Arroganz hätte leisten können, denn Francesco, das „Französchen“, wie Giovanni genannt wird, hat in seinem eigenen Leben bisher nichts Rechtes auf die Beine gestellt. Er hat viel gefeiert, hat sich an einem Aufstand gegen die Obrigkeit der Stadt beteiligt und ist bei einer verlorenen Schlacht im Jahr 1202 in Kriegsgefangenschaft geraten, um nach über einem Jahr schwer krank in seine Heimatstadt Assisi zurückzukehren. Aber Francescos Traum vom Rittertum ist nicht zu Ende, er reitet aus, um sich an einem Kreuzzug nach Apulien zu beteiligen. Doch schon nach wenigen Kilometern zweifelt er an der ganzen Sache und bricht die Expedition ab. Er gerät in eine Lebenskrise, zieht sich zurück und begegnet um das Jahr 1205 in einer Ebene einem Leprakranken: Der Anblick stößt ihn ab, er ekelt sich vor dessen unangenehmen Fäulnisgeruch. „Es kam mir sehr bitter vor“, schreibt er später, „Aussätzige zu sehen.“ Doch er überwindet sich, hilft erst dem einen, dann anderen Aussätzigen. „Und da ich fortging von ihnen, wurde mir das, was mir bitter vorkam, in Süßigkeit der Seele und des Leibes verwandelt.“
Es gibt keine Heiligen wie Franz von Assisi im Franziskaner-Kloster an der Wollankstraße in Berlin-Pankow. Es gibt in dem heruntergekommenen Bürgerhaus aus der Gründerzeit nur ein paar Leute, die komische Dinge versprochen haben wie in Armut, gehorsam und ohne Sex zu leben. Weil es Giovanni Bernardone vor knapp 800 Jahren ebenso gemacht hat und weil es vielleicht irgendwann einen Lohn dafür gibt – im Himmel, wenn es ihn gibt.
Die Suppenküche hilft denen, die den Aussatz der heutigen Zeit haben: Armut in einem reichen Land, in einer Gesellschaft, die sich orientiert an den ewigen Idealen dieses Yuppies aus dem 13. Jahrhundert, Francesco, der besser roch als der Alte mit den kurzen Hosen, besser aussah als die dicke Mutti mit ihren zwei Kindern, der nicht so eklig war wie der sich schamlos kratzende Mümmelmann, der feiner war als der Angeber mit seinen frischen Socken und dessen Zukunft nicht so perspektivlos war wie die Inges im Rollstuhl.
Welche Perspektive hat Peter Buchholz, der leicht lispelt, wenn er unruhig wird, weil die Arbeit wartet? Vor 41 Jahren wurde er in Borken im Münsterland geboren, studierte Kommunikations-Design („wäre beinahe in der Werbung gelandet“) und tritt mit 30 in den Franziskaner-Orden ein, nachdem er eine Ausbildung zum Sozialarbeiter gemacht hat. Warum Bruder Peter dieses Leben gewählt hat? Seine „gut katholische Erziehung“ gibt er als Grund an. Seine „Erfahrung der einen Welt“ bei einer Brasilienreise, fügt er hölzern hinzu – und seine „Auseinandersetzung mit Franziskus“ und die Anregungen aus der Studentengemeinde: Den Glauben im Alltag aktiv leben zu wollen – was immer das heißt.
Rosi Skupin, 44 Jahre alt und seit 1992 Köchin in der Suppenküche, setzt sich dazu. Ihre Backen glühen von der Hitze in der Küche. Zwischen 200 und 450 Mahlzeiten bereiten sie und etwa 20 weitere ehrenamtliche Helfer täglich für die Armen, Obdachlosen und Hungrigen, die sechsmal die Woche in die Wollankstraße kommen. Fünfmal die Woche gibt es Eintopf, dazu Obst, Joghurt und auch mal eine Pizza. Einmal wöchentlich wird auch „festes Essen“ angeboten wie Gulasch oder Frikassee – wann, wird nicht verraten. Sonst könnte sich die Küche „vor Leuten nicht retten“.
Alles, was sie koche, sei frisch, betont die gelernte Küchenmeisterin mehrmals. Von den Speisespenden, die die Franziskaner wie ihr Ordensgründer Franz als Almosen erbitten, müsse sie manchmal das wegschmeißen, was allzu nahe am Verfallsdatum liege. Schließlich seien viele Esser hier gesundheitlich angeschlagen. Sie biete nur an, was sie selber essen würde. Und maschinell sei hier schon mal gar nichts. Selbst die Teller werden alle per Hand gespült und abgetrocknet. Weil Großspüler zu teuer wären, Arbeitskraft hier aber billig sei und man den Leuten, die helfen, mit ihrer Arbeit auch eine Aufgabe gebe, die ihnen Selbstvertrauen schenke.
Jährlich werden etwa 100.000 Essen ausgegeben, rechnet Bruder Peter, der Leiter der Suppenküche, vor. Auf 500.000 Mark beläuft sich mit Personalkosten sein Etat. Jedes Essen kostet das Kloster am Ende ungefähr eine Mark – die Spender sind etwa der Lions Club, manche Bäckereien, Restaurants und Hotels. Das Kloster fungiere durch die Spenden auch wie ein „Bindeglied“ zwischen Oben und Unten in einer Stadt, die sich immer mehr in Arm und Reich spalte. Die Reichen müssten nicht mehr mit den Armen in Verbindung kommen. Neulich, als er in einem Mercedes-Haus am Salzufer zum Spendensammeln gewesen sei, habe er es wieder gespürt: diesen „absoluten Kontrast“.
„Und ich arbeite mit meinen Händen und will arbeiten“, schrieb Franziskus in seinem Testament an seine Brüder, „es ist mein fester Wille, dass alle anderen Brüder eine Handarbeit verrichten ... Und würde uns einmal der Arbeitslohn nicht gegeben, so wollen wir zum Tisch des Herrn Zuflucht nehmen und Almosen erbitten von Tür zu Tür.“
An diesem Morgen bekommt Bruder Peter einen Anruf: Sechs Gänse können sie kriegen – sie müssen sie nur abholen. Im Haus gibt es noch eine Kleiderkammer und eine Hygiene-Station und „keine dummen Sprüche vom Sozialamt“. Er stelle „die Schuldfrage“ nicht, sagt Bruder Peter, hier sollten die Leute erst einmal zur Ruhe kommen. Aber fragen wolle er schon, was man ändern könne, um aus dieser Situation herauszukommen.
Nur eine Dusche steht den Hunderten Leuten zur Verfügung, berichtet Bruder Peter. Es sei eben nur ein ganz normales Wohnhaus. Mehr brauchte eine Familie früher nicht. Die Leute kämen hierher, wenn sie zu wenig zu essen hätten, da ihnen die Sozialhilfe gestrichen werde, sobald sie sich nicht an die Anforderungen der Ämter hielten. Zum Ende des Monats steige die Zahl der Essensempfänger an, da das Geld oft nicht mehr reiche fürs Essen. Und manchmal versuche das Sozialamt sogar die Zuwendungen zu kürzen, wenn herauskomme, dass jemand hier zu essen bekommt: Dann brauche man ja auch nicht mehr Essensgeld zu zahlen, meinen so manche Beamte.
Nein, die Mission stehe hier nicht im Vordergrund, aber wenn er gefragt werde, rede er schon von seinem Glauben, sagt Bruder Peter. Er hat seine braune Kutte an einen Nagel gehängt, sie trägt er nur, wenn es offizielle Termine gibt – das maßgeschneiderte Habit ströme Autorität aus, und zudem sei es oft hinderlich bei der Arbeit. Allerdings wirke die Kutte hier in Berlin oft „so fremd, dass es schon wieder interessant ist“. Vor dem Essen gebe es lediglich ein kurzes Gebet –„das ist akzeptiert“. Die Leute müssten nicht mitbeten. Allerdings seien manche Essensempfänger stolz auf die Franziskaner. Sie liefen mit dem Kruzifix in T-Form herum.
„Die dann kamen, um unser Leben mit uns zu teilen, gaben alles, was sie besaßen, den Armen; sie waren zufrieden mit einem Habit, der außen und innen geflickt war, sowie mit einem Strick und Beinkleidern; und mehr wollten wir nicht haben.“ (aus dem Testament von Franz von Assisi)
Natürlich fülle man mit seiner Arbeit eine Lücke, die eigentlich der Staat schließen müsste, sagt Bruder Peter. Andererseits seien sich viele Behörden dieser Lücke auch bewusst. Individualisiert würden die Probleme der Gesellschaft. Sie werde als nicht mehr verantwortlich begriffen, Armut an den Rand gedrängt. Ihre Hilfe in der Suppenküche verändere vielleicht nichts Grundsätzliches. Aber könnten sich nicht auch Strukturen wandeln, wenn sich das Bewusstsein über ihre Defizite ändere? Beim Essen sagt Bruder Peter, man könne es mit Franziskus und seinem Sonnengesang sagen: Alle Menschen, ja alles, was uns umgebe – vom „Bruder Feuer“ bis zur „Schwester Sonne“ –, habe einen Vater: Deshalb seien wir alle Brüder und Schwestern. Und alle gleichwertig.
Peter Peetz kommt seit zehn Jahren zur Suppenküche, zuerst als Obdachloser, seit anderthalb Jahren als Angestellter des Klosters. Der 35-Jährige mit dem blauen Muscle-Shirt schaut, dass der Laden läuft. Für lange Gespräche hat er keine Zeit, er muss helfen. „Opa“ mit dem Cowboyhut und den vielen Tätowierungen am Arm ist 68 Jahre alt und Rentner. Er hat Kippen in einer kleinen Plastiktüte gesammelt und raucht die Zigarettenstummel. Mit 623 Mark muss er im Monat auskommen. Bis zum 20. Juli muss er aus der Wohnung raus. Seine „Lebensgefährtin“ Ingrid, die den Mietvertrag unterschrieben hatte, sei vor drei Monaten gestorben. Die Miete habe er weiter überwiesen, aber der Vermieter wolle ihn einfach raus haben. Was er nach dem 20. Juli machen soll, weiß er nicht.
Auch sein Kumpel Ingo war früher auf der Straße – und im Knast, selbst gemachte Tätowierungen zeugen davon. Den 37-Jährigen stört es nicht, dass das hier katholisch ist. Es werde nicht missioniert, und jeder sei ruhig, wenn vor dem Essen gebetet werde.
Eine Pizza in der Hand, sitzt Inge im Rollstuhl vor der Essensausgabe vor dem Hof. Die 51-Jährige muss mit 411 Mark im Monat auskommen – der Rest gehe für ihren Pfleger drauf. Manchmal komme sie hierher, wenn das Geld knapp werde. Seit der Geburt gehbehindert, nachdem sie von ihrem Exmann aus der Wohnung rausgeschmissen worden sei, habe sie anderthalb Jahre als Obdachlose in einem Rollstuhl leben müssen. „Man kann was tun, wenn man nicht nur auf der Straße sitzt“, sagt sie. Inge verkauft zwei Obdachlosenzeitungen, um ihre Sozialhilfe aufzubessern. Aus der Kirche sei sie ausgetreten, aber gegen die Brüder hier habe sie nichts: „Katholiken sind auch Menschen“, sagt sie und lacht.
Im Kloster hängt ein Plakat mit einem Spruch aus der Bibel: „Nicht den Schnellen gehört im Wettlauf der Sieg, nicht den Tapferen der Sieg im Kampf, auch nicht den Gebildeten die Nahrung, auch nicht den Klugen der Reichtum, auch nicht den Könnern der Beifall, sondern jeden treffen Zufall und Zeit.“ (Kohelet, 9,11)
Vor 775 Jahren, am 3. Oktober 1226, einem Samstagnachmittag, bittet der totkranke und fast blinde Franz von Assisi seine Brüder, ihm den Sonnengesang, den er selbst komponiert hat, vorzusingen. Der 45-Jährige lässt sich auf die Erde legen, dann stirbt er. Nackt wie bei seiner Geburt. Und arm.
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