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MILOŠEVIĆ-PROZESS: AUF DEM WEG ZU EINEM HUMANITÄREN VÖLKERRECHTChance für Glaubwürdigkeit

Die Auslieferung von Milošević wird die Chancen eines künftigen Völkerstrafrechts mit bestimmen: Denn der internationale Gerichtshof zur Aburteilung von Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien stellt den eigentlichen Testfall für den künftigen Internationalen Strafgerichtshof dar.

Im Fall von Milošević und anderer per Steckbrief als Kriegsverbrecher gesuchter Politiker geht es in erster Linie um die Glaubwürdigkeit der Strafverfolgung. Die bisher ergangenen Urteile des Tribunals wären entwertet, wäre es nicht gelungen, den Hauptdrahtzieher vor Gericht zu bringen. Ohnehin hat die Legitimation der Haager Richter Schaden genommen, als nach dem Dayton-Abkommen jahrelang nichts unternommen wurde, um Milošević zu verhaften. Mit seiner Auslieferung nach Den Haag ist nun der Weg frei für die Inhaftierung von Radovan Karadžić und Ratko Mladić, den nach Milošević Hauptverantwortlichen für Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowina.

Die Verantwortlichkeit führender Politiker für von oben veranlasste Kriegsverbrechen ist ein Kernstück künftigen humanitären Völkerrechts. Es geht um die Frage, ob Menschenrechte in der Praxis universell gelten. Kann ein zivilisatorischer Mindeststandard im Umgang mit eigenen wie fremden Bürgern im Notfall erzwungen werden oder bricht sich dieser Anspruch an den Grenzen des Nationalstaats, am Gebot der „Nichteinmischung“? Mit der Einsetzung der Gerichtshöfe für Jugoslawien und Ruanda hat der Sicherheitsrat der UN an den Standard angeknüpft, den die Nürnberger Prozesse gesetzt hatten, der aber niemals hatte verallgemeinert werden können. Es ist aber gerade diese Verallgemeinerung, an die sich die Legitimation jeder internationalen Strafverfolgung knüpft.

Dass die Luftangriffe der Nato gegen Jugoslawien, deren Völkerrechtswidrigkeit nicht ernsthaft bestritten werden kann, in Den Haag außen vor bleiben, mindert die Glaubwürdigkeit des Gerichts, stellt aber überhaupt kein Argument gegen die Aburteilung von Milošević dar. Jeder Prozess dieser Art verfestigt die internationale Rechtspraxis. Und das Verfahren wie das Urteil speziell gegen Milošević würden einen starken öffentlichen Druck auf die Regierungen derjenigen Staaten ausüben, die die internationale Strafgerichtsbarkeit bislang ablehnen, die USA beispielsweise.

Wir sollten uns auch nicht von der Tatsache bestimmen lassen, dass eine eventuelle Zustimmung zum Auslieferungsdekret in Jugoslawien mehr von ökonomischen als von rechtlichen Erwägungen bestimmt wird. Der jetzt oft gehörte Slogan „Entweder Milošević oder wir“ enthält nicht nur ökonomische Kalküle (in Richtung zukünftiger westlicher Geberländer), sondern auch die Aufforderung, sich vom Mythos nationaler Führerfiguren zu befreien. Das ist ein Schritt nationaler Emanzipation, ohne den jedes internationale Strafurteil wirkungslos bleibt. CHRISTIAN SEMLER

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