: „Sex hurra!“
„Der Mann ist der Pfeil, die Frau die Erde“, sagt Frank, der das Tantra-Seminar leitet. Er meint es ernst. Denn jede Ironie ist verpönt, wenn 50 Menschen sich treffen, um zwischen weichen Polstern nach Sinn und Erfüllung zu suchen
aus Berlin EDITH KRESTA
Wir schließen den großen Kreis und legen unsere Hände ineinander. Dreimal tief einatmen und in ein langes Oooommmm ausatmen. Die Luft vibriert. Die Runde, circa fünfzig Personen, Männer und Frauen, schaut konzentriert und mit geschlossenen Augen in sich. Frank referiert mit leicht schwäbelndem Akzent und einschmeichelnder, sonorer Stimme: „Oh Kraft, komme! Du bist hier, um in deine tiefere Wahrheit einzutauchen. Hier in diesem geschützten Raum, wo alles möglich ist, wenn es selbstbestimmt kommt.“ Und Vimalmani ergänzt: „Jeder hat doch das Bedürfnis, geliebt und gehalten zu werden. Wir werden unsere gemeinsame Zeit nutzen, die Kunst des bewussten Liebens, das Körper, Herz und Seele umfasst, neu zu lernen.“ Frank und Vimalmani leiten gemeinsam das „Institut für Lebenskunst & Tantra“ im Berliner Bezirk Kreuzberg. Inmitten dieser entzauberten, großstädtischen Welt gedeiht ihr freies religiöses Unternehmertum. Wenn sie im Kreis ihrer Zuhörer mit verschränkten Beinen auf dem Boden sitzen, wirken sie wie Yin und Yang in Reinform. Vimalmani, die Mütterliche, die Erdige mit dem weichen Körper und dem langen, blonden Haar. Frank, der Jäger, mit buschigen Augenbrauen, das dunkle, lange Haar meist zu einem Zopf gebunden. Sie strahlen Sicherheit und Gewissheit aus. Man folgt ihnen gern.
Geborgenheit vermittelt auch das weitläufige Dachgeschoss, in dem unsere viertägige „Celebration“ zum Thema „Liebe, Sexualität und Heilung“ stattfindet. Abgeschirmt von Lärm und Verkehr im Kreuzberger Hinterhof gelegen, mit Holzboden und warmen, gelben Wänden glänzt der Raum vor allem abends bei Kerzenschein. Alles ist kuschelig, alles weich, mit Kissen und Matratzen. Schon der Schuhabstreifer in roter Herzchenform signalisiert: Hier beginnt das Land der Herzen. Herzen zieren unsere Namensschilder, Herzen als Kissen, als Geldschatulle. Herzflimmern unter der Glasglocke unseres geschützten Raums.
„Tantra fordert dich auf, tief zu verstehen, dass die Jagd nach dem perfekten Körper, die Jagd nach dem perfekten Partner und dem perfekten Sex nichts ist als die Illusion einer Gesellschaft, die versucht, ihrer inneren Leere und Unausgefülltheit auszuweichen und die Kunst des bewussten Liebens verlernt hat“, referiert Frank gesellschaftskritisch. Frank hat Pädagogik studiert, war dann bei K-Gruppen aktiv, engagierte sich in der Berliner Hausbesetzerszene und entdeckte schließlich „die anderen Wege“ wie „Skydancing, Tantra, Feuerlauf, Transpersonale Erziehung, Taoismus“. „Unser Beruf ist Berufung“ sagt Vimalmani, die ihren Namen vom großen Meister Baghwan hat. Sie ist gelernte Erzieherin mit Fortbildungen in Tantra bei Osho, Orgodynamik, NLP und ganzheitlichen und spirituellen Therapiemethoden.
Das Seminar von Frank und Vimalmani gleicht einer Wundertüte. Im Angebot sind: Sinngebung, Lebenshilfe und gute Unterhaltung. Ein Angebotsmix aus Bioenergetik, Meditation, Tanz, der normalerweise bevorzugt von Frauen in der Lebensmitte gebucht wird. Bei Tantra kommt der Sex hinzu, als die Lebensenergie überhaupt, und der macht Sinngebung auch für Männer interessant.
Vimalmani und Frank versprechen Heilung und Harmonie für Leib und Seele über die Produktivkraft Sexualität: „Sex schafft Leben, schafft Freude. Sexualität ist ein Weg zum Göttlichen, zum Heil“. Unser Mantra, das wir laut in die Welt hinausschreien: „Sex hurra!“
Tantra à la Frank und Vimalmani ist eine Designer-Religion mit den unterschiedlichsten Einsprengseln: Ekstatischer „Tanz um die schöne Frau, den wilden Mann in dir“ zu guter Musik wechselt mit anschmiegsamem Rückenreiben an immer wieder anderen PartnerInnen ab. So lernt man sich kennen in der Selbsterfahrungsgruppe. Oder: „Schau mir in die Augen, und ich sage dir, warum du ein Geschenk für mich bist.“ Hilflos stehe ich vor einem fremden Gegenüber und überlege krampfhaft, warum er oder sie ein Geschenk für mich ist. Lügen gilt nicht. Ironisches Spiel ist verpönt. Hier ist geradliniger Ernst angesagt. Hier wird eine Pseudo-Nähe suggeriert, und die ist dünnhäutig.
Zum Glück entkrampfen wir uns beim bioenergetischen Becken-Bouncing. 50 Leute liegen auf Matratzen auf dem Boden, schmeißen das Becken hoch und lassen dabei lautstark Aggressionen und Gefühle heraus. Die Energie und Geräuschkulisse, die durch den Raum schwappen, können das Fürchten lehren. Dann üben wir, Grenzen zu setzen, indem wir einem wechselnden Gegenüber sagen, wie weit er oder sie sich nähern darf.
Schließlich sprechen Frank und Vimalmani über Sex. „Die Sehnsucht, Sexualität zu erleben, hat dich hierher geführt“, sagt Frank, „und das ist gut so.“ Er referiert über die Unterschiede von Mann und Frau: „Der Mann ist Autorität, die Frau Liebe. Der Mann ist der Pfeil, die Frau die Erde.“ – „Auch bei den Tieren im Rudel begattet das männliche Leittier viele Weibchen, die auf ihn warten“, meint Vimalmani. Der biologistische Ansatz tut mir nach Jahren mühsamer Emanzipation weh. Doch Vimalmani spendet Hoffnung: „Über das biologische Erbe kann man durch Bewusstsein hinauswachsen.“ Zum biologistischen Ansatz gesellt sich nun der „feinstoffliche Bereich“ der Seele. „Die Seele fehlt so oft in der Sexualität“, fährt Vimalmani fort. „Sex ist Ware. Im Tantra geht es aber um Tiefe und Resonanz. Deshalb muss man in die Alchemie der Sexualität einsteigen.“
Heilung erfolge beispielsweise durch Ehrlichkeit: „Sage, was du brauchst, dein Busen, deine Joni (Scheide). Sage, was dir fehlt.“ Das üben wir im nächsten Ritual in der Dreiergruppe. Wir bauen uns ein Nestchen aus Matratzen, Decken und Tüchern. Legen unsere Fetische dazu, bei Mona ist es das orange-grüne seidene Lieblingstuch, bei Leo ein silbernes Duftkästchen, ich habe keinen. Jeder bekommt eine Stunde Zuwendung von den beiden anderen geschenkt. Mona nestelt umständlich an Hemd und Hose, bis sie sich schließlich davon befreit hat. Mit verschränkten Armen und Beinen, verkrampft, aber splitternackt, spricht Mona über die selbst empfundenen Makel ihres Körpers. Wir beschreiben dann unter Anleitung von Frank und Vimalmani die Schönheit ihres Körpers, der sich immer mehr aus der zusammengeschnürten Sitzhaltung lockert. Mona freut sich. Dann massieren wir sie vierhändig zu meditativer Musik, wo immer sie es wünscht. So kommt man sich näher. Körperlich. Entspannt. Mona äußert ihre Wünsche immer freier. Der ätherische Duft von Massageölen, bevorzugt Rosenduft, strömt durch den Raum. Penetrant. Aufdringlich. Kaum erträglich.
Die Teilnehmer, im Alter zwischen Anfang 30 und Mitte 50, kommen aus der ganzen Republik. Es sind einige Paare darunter, die nach Wegen aus der Einsamkeit der Zweisamkeit suchen. Andere machen schon jahrelang Tantra. Neuzugänge, die es einmal ausprobieren wollen. Henk und Marie sind aus Amsterdam angereist. Bei einer Tasse Roibuschtee in der Pause erzählt Henk, dass sich sein Leben nach den ersten Tantrakursen „total verändert“ hat. Nun möchte er auch Marie Tantra näher bringen. Elenore hat von einer Freundin viel Gutes über Tantra in Berlin gehört, beispielsweise, dass man hier Männer kennen lernen kann. Leo, der Manager, lebt nach einer schmerzhaften Trennung von seiner Familie allein: „Ich „komme mit meiner Sexualität nicht ganz klar“, gesteht er.
Die Wünsche sind zahlreich. Ihre Erfüllung in fernöstlichen oder anderen exotischen Praktiken zu suchen ist längst Normalität. Mainstream. Keine Aussteiger auf Zeit, wie noch in den 70er-Jahren, suchen hier nach neuen Wegen, sondern die wohl angepasste Erzieherin, der wohl angepasste Ingenieur von nebenan, der mittwochs im Kirchenchor singt. Sie wollen nicht aus-, sondern erfolgreich und glücklich einsteigen. Heilsuche hat Konjunktur.
Am nächsten Tag begeben wir uns weiter auf die Suche nach dem Stein der Weisen „durch die Alchemie der Ekstase“. Frank referiert über die Sexualität des Mannes und darüber, wie Männer das sexuelle Empfinden zu steigern lernen, indem sie „dem sexuellen Energiefluss“ nachspüren. Auch das „Zurückhalten der Ejakulation, um den Energiekörper zu lenken“, hört sich für weibliche Bedürfnisse nicht schlecht an.
Dann folgt ein weiteres, praktisches Ritual. „Sucht euch einen Partner, eine Partnerin, aber wählt nicht eure Traumprinzessin, euren Traumprinzen“, gibt Frank den ausschweifenden Singles im Kreis der 50 mit auf den Weg. Die Paare bleiben meist unter sich. Die Partnersuche ist subtil. Nicht jeder gesteht sich seine Vorlieben ein, andere gehen zielstrebig auf einen Partner, eine Partnerin zu, wieder andere, die Unerfahrenen, greifen desorientiert auf den Nächstbesten zurück. Leo hat sich neben mich gesetzt. Ein Glücksfall. Er gehört weder zu den rein Triebgesteuerten, noch ist er der mehrmals vertretene Typ Esoteriker, der seinen Trieb spirituell verbrämt. Leo ist nach familiären Desastern auf Sinnsuche. „Und wer Sinn sucht“, gesteht er mir, „lässt sich gerne manipulieren.“
Mann und Frau sitzen sich schließlich gegenüber. „Wir atmen durch die Joni (Scheide), durch den Lingam (Penis).“ Frank und Vimalmani moderieren mit meditativem Tonfall, einlullend, manipulierend. Ungefähr eine Stunde lang. „Wir atmen tief ein und aus, ein und aus ... Wir kommen uns näher ... Wir atmen nun gleichmäßig aneinder geschmiegt, Herz an Herz, einatmen, ausatmen ...“ Später: „Schoß an Schoß ... Wir sind uns nah, reiben uns ... Alles fließt, alles ist erlaubt ... lass deine Hände wandern ...“ Stöhn, Seufz, auf-, neben- und untereinander. „Wie es euch gefällt.“ Ein Stein, wer nicht dahinfließt, zumindest erregt ist. Kontrollierter Kontrollverlust mit Gruppenfeeling im elaborierten Swingerclub. Kondome liegen draußen bereit. Nicht alle verlieren sich in meditativer sexueller Ekstase. Einige wenige haben den Versuch frühzeitig abgebrochen und stolpern über dahinfließende, mit sich beschäftigte Paare zum Roibuschtee nach draußen.
Tantra mobilisiert die sexuelle Produktivkraft der Maschine Mensch. Im geschützten Raum fallen Hüllen, Schamgrenzen und Tabus. Im ritualisierten Tabubruch können aufgestaute Gefühle zugelassen und möglicherweise neue Erfahrungen gemacht werden. Blockaden werden gelöst. Gefühle aufgeweicht. Es kommt zu Tränen und Ausbrüchen, hysterischem Schluchzen. Die Ausbrüche gehören zum Programm, wenn Vimalmani bei der Wurzelmeditation dort „hinfasst, wo das Herz ist“, und schlecht verheilte Familenkonflikte aus der Tiefe nach oben befördert. Ein sumpfiges Terrain für psychisch Labile, denn niemand fängt einen Zusammenbruch wirklich auf. Die spirituell verbrämte Selbsterfahrung der körperlichen Art dient einem gesteigerten, völlig individualisierten Selbsterleben. Kurzfristig kann sich dabei sogar Nähe einstellen, beim Sex oder wenn einer tröstend den Arm um einen anderen legt. Gruppenerfahrung, von der morgen vielleicht eine nette Erinnerung bleibt, vielleicht auch eine neue Beziehung.
Wenig nur rettet sich in die Echtwelt. Da der Alltag die Versprechen der Heilung und des Heils nicht einlöst und der Glücksschub wieder stockt, besuchen viele ein Seminar nach dem anderen. Renate ist seit fünf Jahren dabei. Dieses Wochenende ist sie mit anderen Tantras zusammen Assistentin. Sie kocht Tee, hilft im Seminarraum. Dafür bekommt sie Prozente für das nächste Seminar. Renate, Lehrerin in einer katholischen Schule, ist eine begeisterte Tantra: „Tantra hat mir nach einer schweren Krise das Leben gerettet“, gesteht sie, während sie der Seminarteilnehmerin Claudia aus Stuttgart tröstend übers Haar streicht. Auch Claudia macht seit 10 Jahren Tantra, heute hat sie die Krise. Heulend sitzt sie neben Renate im Teeraum: „Ich kann diesen Ringelpiez mit Anfassen nicht mehr ertragen“, jammert sie. „Immer die gleichen Spielchen.“ Heftige Spielchen unter Anleitung, teuer bezahlt, gut inszeniert, schamlos wie das Doktorspiel im Sandkasten. Am nächsten Tag reist Claudia entnervt ab.
Die meisten anderen Teilnehmer zeigen sich in der Abschiedsrunde stark gerührt. Es sind die Bindungsschwachen, die Nähe für kurze Zeit suchen oder die erotische Trance, die Einsamen, die Hilfesuchenden und die Süchtigen, die nach leicht genießbarer spiritueller Kost lechzen und sich gerne von den Heilsversprechungen einlullen lassen. Bedürftige, doch wer ist es nicht? Der erotische Kick, die erotische Begegnung beim Ein-und Ausatmen mit Reibung kann zur Droge werden. Denn sinnlicher als Gottes Wort in den Kirchen ist Tantra allemal.
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