: „Es gibt immer mehr rollende Chemiebomben“
Manfred Krautter, Chemieexperte bei Greenpeace, über die Risiken 25 Jahre nach Seveso: Anlagen sind sicherer, Transporte problematisch
taz: Herr Krautter, die UNO verbietet die 12 gefährlichsten Umweltgifte, die EU will in Zukunft die meisten chemischen Substanzen überprüfen lassen. Ist bei der Chemieindustrie 25 Jahre nach Seveso alles in Butter?
Manfred Krautter: Nein, aber es gibt sicherlich positive Konsequenzen, am auffälligsten ist der Umgang mit Dioxinen. Seveso war ja das erste öffentliche Auftauchen von Dioxin, einem der giftigsten Chemikalien überhaupt, in Europa. Seither wurden die Dioxine aus Müllverbrennungsanlagen und Stahlwerken reduziert, und auch die Chemieindustrie hat dazu beigetragen, dass die Belastung der Bevölkerung mit Dioxinen deutlich gesunken ist. Aber nicht deutlich genug. Noch heute ist die tägliche Aufnahmemenge von Dioxin bei Kindern viel zu hoch, die offiziell akzeptablen Niveaus werden überschritten.
Was ist aus Sicht der Umwelt heute das größte Problem?
Es gibt drei Problembereiche: Unfälle, Transporte und legale Produkte Bei den Unfällen hat sich nach Seveso durch die Störfallverordnung, die jetzt auch europaweit gilt, einiges verbessert. Die stationären Anlagen sind heute sehr viel sicherer als vor 25 Jahren. Große Probleme haben wir heute beim Transport von gefährlichen Chemikalien. Hunderttausende Tonnen sind unterwegs, aber wenn ein Schiff mit Chemieladung sinkt, gibt es eine große Hilflosigkeit.
Was fordern Sie?
Transporte haben sehr deutlich zugenommen. Ein dringendes Ziel wäre es, gefährliche Chemikalien nur dort zu prodzuzieren, wo sie auch verwandt werden. Es macht keinen Sinn, diese Gefahrstoffe auf Weltreise zu schicken. Ein Waggon voller Chlor, der leckschlägt, kann hunderttausende von Menschen das Leben kosten. Es gibt immer mehr dieser rollenden Bomben. Man schätzt, dass pro Jahr in Deutschland allein 300.000 Tonnen der gefährlichen Chemikalie Chlor unterwegs sind.
Chlor ist berüchtigt. Aber bei vielen anderen Stoffen weiß niemand, wie sie überhaupt wirken.
In Europa sind etwa 30.000 Stoffe auf dem Markt, von denen bislang einige hundert auf ihre Wirkungen untersucht sind. Behörden und Industrie wissen oft nicht, wie gefährlich die Stoffe sind, die heute auf den Markt gebracht werden. Viele unser Alltagsprodukte sind voll mit diesen Stoffen, die freigesetzt und von uns aufgenommen werden.
Was sollte die Politik tun?
Selbst Stoffe, wo man Gefahren erkannt hat, werden in Europa in der Regel nur unzureichend reglementiert. Beispiel: TBT für Schiffsanstriche, von dem die WHO sagt, es sei einer der gefährlichsten Stoffe, den die Menschen jemals in die Umwelt eingebracht haben. Deutschland hat auch auf Druck von Greenpeace eine nationales Verbot angekündigt, aber die EU sträubt sich dagegen. Wenn Gefahren erkannt sind, muss reagiert werden.
Die Vorschriften für Störfälle sind also inzwischen in Ordnung, aber die Regeln für den Nomalbetrieb nicht?
Es sind weniger die Chemieanlagen, Abwasserrohre und Schornsteine der Industrie, die gefährlich sind. Heute sind es zum Teil ganz alltägliche Produkte, die ganz legal verkauft werden, die aber voller Chemikalien sind, die wir nicht kennen, oder gefährliche Stoffe, die nicht reglementiert werden. Das sind tickende Zeitbomben.
Gibt es eine Verlagerung der Risiken zu anderen Bereichen?
Es gibt ja immer wieder die Chemieprobleme bei Lebensmitteln, etwa bei Dioxin in Hühnchen. Das erscheint aber als Problem der Lebensmittelindustrie und nicht als Problem der Chemieindustrie.
Früher hieß es, Seveso sei überall. Stimmt das noch?
Das „Überall“ hat sich sogar noch ausgedehnt, wenn man so will, hin zu einem globalen Problem. Vor 25 Jahren war die Chemieindustrie mit ihren Umweltauswirkungen auf die OECD-Staaten konzentriert. Heute ist die Chemieindustrie eine der am weitesten globalisierten Industriezweige. Die Regionen, die uns am meisten Sorgen machen, sind heute etwa Indien, Indonesien oder China. Da gibt es jetzt etwa die Dioxinskandale, die wir bei uns abgehakt haben. Seveso droht sich also zu globaliseren.
INTERVIEW: BERNHARD PÖTTER
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