Die Ehre der Vorhaut

Mag sein, dass die Amerikaner das Web nur erfunden haben, weil sie (im Durchschnitt) so viktorianisch prüde sind. Bekanntlich müssen sie deshalb ständig über die menschlichen Dinge reden, die sie nicht sehen dürfen. Eines dieser intimen Probleme ist die Frage, ob Männer beschnitten werden sollen oder nicht. Auch im deutschsprachigen Web gibt es dazu eine Adresse. Die Website unter www.eurocirc.org/infocirc wird unterhalten von strammen Befürwortern dieser angeblich aus religiösen Gründen in manchen Kulturen vorgeschriebenen, reichlich blutigen Operation an männlichen Säuglingen.

Merkwürdigerweise stammen die hier auffindbaren fundamentalen Artikel gegen die Vorhaut von australischen Ärzten. Warum sie nun gerade deutschsprachige Europäer vom Vorteil der nackten Eichel überzeugen sollen, bleibt das Geheimnis der nach eigenem Bekunden „ehrenamtlichen“ Organisation „Info-Circ“. Sie meint – zu Recht – dieses Thema sei in Deutschland „wenig bekannt“. Die eine brave Website wird daran wohl wenig ändern, Postviktorianer beiden Geschlechts interessieren sich einfach zu wenig für diesen insgesamt doch eher unwichtigen Abschnitt der menschlichen Anatomie. Ganz anders eben in den USA. Dort schuftet ein halbes Dutzend Graswurzel-Organisationen schwer an der Aufgabe, die Ehre der Vorhaut zu retten – auch dann, wenn das Stück Gewebe bereits weg ist. Gerade dann sogar.

Unter net.indra.com/~shredder/restore gibt der Betroffene Paul Russo weltweiten Einblick in sein Tagebuch der Genesung. Seine Fotos beweisen, dass der medizinische Fortschritt es möglich macht, das verlorene Stück zu ersetzen. Weil sein Werk ausschließlich dem Zweck der Erziehung diene, wie Russo glaubhaft versichert, fällt es nicht unter das sonst so strenge amerikanische Verbot der „frontal nudity“.

Ein Einzelkämpfer ist Russo nicht. Mit einem halben Dutzend lobender Erwähnungen überhäuft ist die Adresse www.cirp.org. Das steht für „Circumcision Information and Ressources Pages“. Sie lassen kaum Wünsche offen. Jede Hautfalte des männlichen Glieds wird in Bild und Text genaustens beschrieben. Frontaler geht es nicht mehr, und mit alteuropäischen Vergnügen wird man bemerken, dass der Viktorianismus seine Reize hat. Das ständige Tabubrechen fördert die Bildung. Die Website erschließt deshalb überaus gelehrte Fachartikel zu allen denkbaren medizinischen, historischen und sozialen Aspekten der Beschneidung von Männern. Wirklich viel zu wenig bekannt hierzulande ist etwa, dass in den USA noch bis vor wenigen Jahren kaum ein christlicher, weißer Mittelstandsjunge dem Messer entkam. Eingeführt wurde diese Sitte von puritanischen Auswanderern des vorletzten Jahrhunderts, die glaubten, damit der Onanie vorbeugen zu können. Wie sehr sie irrten, lässt sich sogar auf der armseligen deutschen Site der Beschneidungsfans nachlesen. Es geht auch ohne. niklaus@taz.de