: Theorie ist nicht unheimlich
Aktuell: Die „Zeitschrift für kritische Theorie“ bietet mehr als Nachlassverwaltung ■ Von Roger Behrens
In der beim Lüneburger zu Klampen-Verlag erscheinenden und von Gerhard Schweppenhäuser herausgegebenen Zeitschrift für kritische Theorie wird nunmehr im siebten Jahrgang kritische Gesellschaftstheorie betrieben, interdisziplinär und fachlich kaum beschränkt: Wie auch in der Zeitschrift für Sozialforschung, dem Theorieorgan des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, in dem Max Horkheimer 1937 seinen Weg bereitenden Artikel über „Traditionelle und kritische Theorie“ veröffentlichte, bemüht sich die Zeitschrift für kritische Theorie um einen kritischen Zugang zur gesellschaftlichen Totalität in ihren unterschiedlichsten Facetten und Phänomenen.
Zwar sind die Mehrzahl der Beiträge philosophisch orientiert, gleichwohl finden sich Beiträge über Musik, Literatur, Film, Naturwissenschaft oder alltagsspezifische Phänomene, Massenkultur und dergleichen. Zur „kritischen Theorie“ gehört die Selbstkritik, die Auseinandersetzung mit ihren Bedingungen. Sie wagt, was nach den gewöhnlichen theoretischen Moden längst als Anachronismus erscheint: Im ständigen Prozess werden philosophische Grundbegriffe an der sozialen Praxis überprüft.
Damit streitet die Zeitschrift für kritische Theorie nicht nur für kritisches Denken, sondern für Denken, das nicht in der Unmittelbarkeit des Alltagsbewusstseins aufgeht, überhaupt. Das Niveau der Auseinandersetzungen begründet sich methodisch in der Empfehlung, dass vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen sei, nicht umgekehrt. Die hier – im Übrigen höchst kontrovers – vertretenen Positionen sind auch als Reaktion auf die derzeitige linkspolitischen Bewegungen zu lesen, denen Theorie an sich schon unheimlich scheint. Kurzum: Die Beiträge bieten nicht immer leichte Kost, schließlich aber den Genuss der Reflexion, der den Fast-Food-Weltanschauungen verpönt ist.
In diesem Sinne setzt sich Egon Becker mit den ideologischen Plaketten der „Wissens-“ respektive „Informationsgesellschaft“ auseinander; es geht um „Bildung“: „Welche Form kann oder sollte die Vermittlung kritischen Bewusstseins heute annehmen, und wie müsste eine kritische Theorie auf diese Tendenzen reagieren?“ fragt Christoph Görg in der redaktionellen Vorbemerkung zu Be-ckers Beitrag, mit dem eine weitere Debatte eröffnet wird. Diese Debatten werden in der Zeitschrift für kritische Theorie als „Einlassungen“ geführt: zum Thema „Kritik heute – Begriff, Gegenstände, Methoden“ haben sich im letzten Heft Alfred Schmidt und Alex Demirovic grundsätzlich geäußert; im Heft 12 erweitern Gerhard Gamm und Gunzelin Schmid Noerr die Diskussion um die Problemfragen von Technik und (Bio-)Technologien.
Gerade aus der Perspektive des einmal im Namen der Hamburger Schule geführten Popdiskurses lohnt sich die Einlassung zum Thema „Kulturindustrie“ – in Heft 11 diskutierte Oliver Fahle die Überschneidungen der Kulturindustrietheorie Adornos mit französischer Medientheorie (Pierre Bourdieu, Paul Virilio, Jean Baudrillard); im neuen Heft entwirft Gernot Böhme eine „Kritik der ästhetischen Ökonomie“.
Um Grundbegriffe geht es auch in den „Abhandlungen“ – in Heft 11 schreibt Kai Lindemann über den bislang weitgehend unbekannten und wenig rezipierten „Racketbegriff als Gesellschaftskritik“. Und Hans-Ernst Schiller untersucht die Tragfähigkeit der These vom „Zerfall des Individuums“ angesichts der gegenwärtigen Individualisierungsideologie. Ulrich Müller widmet sich in Heft 12 der These Adornos von der „Entkunstung der Kunst“.
Jede Ausgabe wird durch Rezensionen und Literaturberichte (etwa über die „Rezeption kritischer Theorie in Griechenland“) beschlossen. Die Zeitschrift für kritische Theorie setzt in der zwölften Ausgabe ihren interdisziplinären Anspruch auf eine radikale Forschung fort und bleibt neben Das Argument die wichtigste wissenschaftliche Zeitschrift in Sachen kritischer Gesellschaftstheorie.
Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 11 (6. Jg.), zu Klampen Verlag, Lüneburg 2000, 24,00 Mark
Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 12 (7. Jg.), zu Klampen Verlag, Lüneburg 2001, 24,00 Mark
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