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Flucht aus der Sucht

Neurobiologen versuchen mit einer neuartigen Behandlungsmethode das Suchtgedächtnis von Heroinabhängigen zu beeinflussen. Sie hoffen, auch andere Abhängige mit ähnlichen Verfahren von ihrer Sucht befreien zu können

von CLAUDIA BORCHARD-TUCH

„Es geht voran!“, erklärte Marion Caspers-Merck. Damit meinte die Drogenbeauftragte der Bundesregierung das Projekt zur ärztlichen Verschreibung von Heroin an Süchtige. Es ist Kernstück der reformierten Drogenpolitik, die im rot-grünen Koalitionsvertrag vereinbart wurde. Noch in diesem Jahr soll das Projekt beginnen.

Es ist allerhöchste Eisenbahn, zu handeln: Die Zahl der Drogentoten ist im Jahr 2000 auf den höchsten Stand seit 1992 gestiegen. Beim Bundeskriminalamt (BKA) wurden im vergangenen Jahr 2.023 Todesfälle durch Drogen registriert. Allein in Deutschland sind 120.000 Menschen wegen Heroinsucht behandlungsbedürftig.

Dabei liegt die Anzahl der Abhängigen viel höher, denn noch unzählige andere Stoffe können ein süchtiges Verlangen erwecken: zum Beispiel Alkohol, Nikotin, Medikamente – oder Essen in jeglicher Form. Sucht kann auch ein unstillbares Verlangen nach Glücksspiel, Fernsehen, Arbeit oder dem Surfen im Internet bedeuten. Was letztendlich die Sucht verursacht, ist nicht genau bekannt. Experten vermuten, dass den Süchtigen oft zu viel in ihrer Kindheit erspart geblieben ist – durch eine übermäßige Fürsorge von Eltern, Lehrern oder anderen.

„Man nehme nie einem Kind ab, was es selber tun kann“, rät Klaus Wanke, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Homburg. „Kinder stark machen, so lautet die Devise. Es gibt eine Untersuchung über Jugendliche, die zehnmal, nicht öfter, Heroin gespritzt und aufgehört haben. Sie alle waren von ihren Eltern sehr selbstständig erzogen worden.“ Wanke unterstreicht, dass Nikotin und Alkohol die „üblichen“ Drogen für den Einstieg seien, gefolgt von Cannabis. Einstieg meine die „entscheidende Erfahrung von Rausch“.

Hat man bereits ein unwiderstehliches Bedürfnis nach diesem Erlebniszustand, gelingt die Flucht aus der Sucht nur sehr schwer. Insbesondere bei Drogensüchtigen ist die Prognose besonders ungünstig. Nur etwa ein Drittel der Abhängigen wird geheilt, bei etwa einem weiteren Drittel tritt wenigstens eine Besserung ein: Die Abstinenzrate nach einer Entwöhnungsbehandlung liegt zwischen 20 und 40 Prozent. Dies soll sich in Zukunft verbessern. Vor kurzem entwickelte man neuartige Medikamente gegen die Sucht sowie ein bislang unbekanntes Verfahren zum Löschen des so genannten Suchtgedächtnisses.

Seit langem ist bekannt, dass jede Sucht – ob nach Zigaretten, Alkohol oder Heroin – regelrecht erlernt wird. Hilft ein Suchtmittel bei Prüfungsangst oder Liebeskummer als Seelentröster, merkt sich dies das Gehirn schnell und verlangt in Zukunft auch in anderen Stresssituationen – beispielsweise während eines Drogenentzugs – nach dem Mittel. Zur Zeit ist das Ziel jeder Entwöhnungsbehandlung, möglichst viel dieses Suchtgedächtnisses zu löschen. Mehrere Wochen lang nimmt der Betroffene regelmäßig an Gesprächen teil – zumeist in einer Suchtberatungsstelle. Hierbei tauscht er seine Erfahrungen mit anderen Suchtkranken aus, arbeitet seine eigene „Suchtkarriere“ auf und übt neue Verhaltensweisen ein.

Aber auch danach sind die Patienten immer noch süchtig. Nur selten können sie die früheren Auslöser ihrer Sucht restlos vermeiden. Besonders bei den legalen Drogen Tabak und Alkohol kommt der eben Entwöhnte immer wieder in Situationen, die in ihm ein übermächtiges Verlangen nach dem Stoff seiner Sucht entstehen lassen.

Der Neurobiologe Jochen Wolffgramm von der Freien Universität Berlin entwickelte zusammen mit seinen Mitarbeitern ein anderes – möglicherweise erfolgreicheres – Verfahren, das Suchtgedächtnis zu löschen. „Unsere Idee war es, den Gedächtnisbildungsprozess gewissermaßen rückwärts laufen zu lassen“, erklärte er. Zunächst verabreichte Wolffgram süchtigen Ratten Cortison, ein Hormon, das der Körper unter Stress ausschüttet und das das Gehirn besonders empfänglich für neues Lernen macht. Dann zwang er ihnen mit dem Trinkwasser permanent Opioide auf. Damit war der Wunsch nach der Droge von ihrer vermeintlich guten Wirkung entkoppelt, und das Rattengehirn lernte ein neues Verhaltensmuster. Alle Ratten, berichtet Wolffgramm, hätten daraufhin „ihre Sucht vergessen“ und wurden geheilt.

Genau diesen Effekt wollen Ärzte der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Tübingen bei ihren Patienten wiederholen: Nach der Entgiftung bekommen die Heroinabhängigen eine Woche lang hochdosiert Cortison. Das auf diese Weise „weich gemachte Gehirn“ (Wolffgramm) wird eine weitere Woche mit Cortison und dem Hustensaft-Wirkstoff Codein bombardiert, einem Opiat, das hoch dosiert wie Heroin wirkt. In der letzten Woche gibt es nur Codein, zu unregelmäßigen Zeiten.

„Die ersten Ergebnisse sind viel versprechend“, erklärte Wolffgramm. Ob das Vergessen dauerhaft anhält, wie Wolffgramm verspricht, werden die Ärzte erst in einigen Jahren wissen. Der Neurobiologe sieht weitere Anwendungsgebiete für seine Methode: „Wenn sie bei Heroin funktioniert, dann muss sie auch anderswo funktionieren.“ Zwar reiche eine Kur aus Cortison und Korn wohl kaum aus, um beispielsweise den Alkoholismus zu verlernen, dafür wirke Alkohol zu komplex. „Aber in drei, vier Jahren“, glaubt Wolffgramm, „werden wir auch da etwas gefunden haben.“

Möglicherweise lassen sich die Süchte auch mit neuartigen Medikamenten besser in den Griff bekommen. Den größten Einfluss wird vermutlich die Raucherpille Zyban haben. Von Nikotin sind mehr Menschen abhängig als von jeder anderen Droge, jeder dritte über 15 Jahren hierzulande. In den USA, wo Zyban seit 1997 auf dem Markt ist, haben mehr als vier Millionen Raucher die Pille genommen.

Ähnlich wie das Zyban beim Nikotin kann das Medikament Aotal beim Alkoholismus das Verlangen nach dem nächsten Schluck dämpfen. Walter Zieglgänsberger und sein Team vom Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie entwickelten den Wirkstoff Acamprosat. Nach elf Monaten mit dem Mittel waren immerhin noch 45 Prozent der Teilnehmer einer Studie abstinent. In der Placebo-Gruppe schafften es nur 25 Prozent.

Eine Sucht nur mit Pillen zu kurieren ist allerdings kaum möglich, glauben die Wissenschaftler. Zieglgänsberger ist überzeugt: „Die Mittel sind nur eine chemische Krücke. Sie helfen, bis der Abhängige gelernt hat, in kritischen Situationen nein zu sagen.“ Wieder einmal stellt sich heraus, dass letztendlich das Suchtgedächtnis gelöscht werden muss.

Um Opiatsüchtige aus ihrem Teufelskreis zu befreien, kann die Abgabe des Ersatzstoffes Methadon helfen. Denn wenn die Abhängigen ihre Droge nicht mehr im Milieu kaufen und in dunklen Hauseingängen spritzen, verlieren viele der süchtig machenden Schlüsselreize an Bedeutung. Die Gefahr eines Rückfalls bei einem späteren Entzug wird so geringer. „Der Konsum wird dadurch banal“, meint Zieglgänsberger.

In diesem Jahr wird erstmals in Deutschland auch Heroin an Süchtige ausgeteilt – im Rahmen eines Arzneimittelversuchs. „Noch ist die Akzeptanz für diese Form der Suchthilfe gering“, erklärte Marion Casper-Merk. Die Hoffnungen jedoch sind groß. Denn die Studie lehnt sich an das erfolgreiche Schweizer Projekt PROVE. Sein Nutzen wurde aus gesundheitlicher, sozialer und kriminologischer Sicht positiv bewertet.

Im Unterschied zum Schweizer Modell will man hierzulande auch auf die psychosoziale Begleitung des Abhängigen setzen: Fällt die Beschaffungskriminalität weg, glauben die Experten, ließen sich selbst Abhängige, die sich bislang in einer ausweglosen Situation befanden, denen gar die Methadonsubstitution nicht weiterhelfen konnte, an eine Therapie heranführen – und am Ende gar ganz vom Drogenkonsum abbringen.

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