: Unsere neuen Nachbarn
Tiere in der Metropole gelten vielen als gefangen und der Natur gestohlen. Alles Unfug. Füchse, Vögel und Schweine beginnen mehr und mehr die Stadt zu erobern
von MICHAEL RUTSCHKY
Meine Schlüsselszene, von der zunächst zu berichten ist, spielt in den frühen Siebzigerjahren. Bei meinem ersten (richtigen) Job hatte ich mit einem Kollegen zu tun, der sich, jenseits von Vietnamkrieg und Antiimperialismus, heftig für jene Themen interessierte, die später dann die Grünen als die ihren besetzen sollten.
Natur. Der Kollege verstand auch was von den einschlägigen Wissenschaften – ungewöhnlich in dem damals vollkommen sozialwissenschaftlich, wenn nicht sogar marxistisch durchwirkten Universum der Rede.
Diesem Kollegen hatte ich eines Tages bei der Konferenz als Nachricht zugedacht: dass wir uns eben einen jungen Hund zugelegt hätten, einen roten Cocker von zwölf Wochen. (Ein schnuckeliger, kleiner Trottel. Wenn wir mit ihm durch unsere Straßen zogen – häufig um ihn auf stubenrein zu trainieren –, knieten plötzlich bislang wildfremde Nachbarn um ihn herum. Ein junger Hund vervielfältigt in Ihrem Kiez auf Anhieb freundliche Kontakte.)
Das junge Tier, lud ich jenen naturbegeisterten und -besorgten Kollegen ein, werde ihn doch gewiss interessieren? Gern dürfe er mal vorbeikommen und es anschauen.
Der Kollege kam natürlich nicht zur Adoration des Welpen. Der junge Hund ließ ihn völlig kalt. Die Natur, um die er sich sorgte, schloss zwar die Tiere ein (schon damals, die Zeit, aus der diese Anekdote stammt, konnte er präzise beklagen, wie viele Arten jährlich aussterben), keineswegs aber Haustiere, womöglich Hunde – schon gar keinen zum Niederknien auf hübsch und schön gezüchteten Cockerspaniel.
Er liebte die Natur und machte sich Sorgen um ihren durch die Menschenart gefährdeten Fortbestand. Aber er mochte Hunde nicht leiden und vermied, sie als Tiere zu klassifizieren. So machte er mich als Erster mit jener Konzeption von Natur bekannt, die seitdem zu einem grundlegenden Ideologem unserer Gesellschaft wurde: Natur ist unpersönlich (während man zu einem Hund und einer Katze, auch zu Meerschweinchen und Kaninchen, ja zu Zootieren, wie die Pfleger erzählen, individuelle Beziehungen aufnimmt), vor allem aber ist Natur dann und nur dann sie selbst, wenn sie unberührt, ja unberührbar bleibt.
Das eingezäunte Biotop, die Wildnis, an deren Grenzen wir stehen und staunen sollen. Insofern hier unverkennbar die Idee der Einheit herrscht, ist diese Naturvorstellung leicht als religiöse zu identifizieren. Die unberührte, unberührbare Natur ist das Numinose, das Göttliche, eine unterdessen tief in den naiven Volksboden eingesunkene Vorstellung. Jedes Touristikunternehmen, das für den Zielort mit seiner „intakten Natur“ wirbt, macht sich dieses Numinose zunutze.
Was die Tierwelt angeht, so gelten die folgenden Unterscheidungen. Wirklich als Repräsentanten der numinosen Natur können nur ungezähmte Tiere gelten, die von den Menschen entfernt in Freiheit leben. Alle anderen sind eigentlich keine richtigen Tiere – wobei es trotzdem zu feinen Abstufungen und Ausnahmeregelungen kommen kann. So zählt der sinnlos an seinem Gitter entlangstreifende Panther im Zoo noch zur numinosen Natur: aber als Gefangener, der die Wundmale dieser Gefangenschaft darstellt.
Der Religionswissenschaftler würde hinter dieser numinosen Natur ohne Mühe den Paradiesgarten erkennen, aus dem die Menschenart sich durch eigene Schuld nun mal selbst vertrieben hat. Insofern wir die eingezäunte Wildnis samt ihrer Fauna sehnsuchtsvoll von außen betrachten, respektieren wir die Vertreibung. Jede Kontaktaufnahme aber korrumpiert die Fauna, insofern wir die paradiesische Geselligkeit, in der Mensch und Tier vor dem Sündenfall im Garten lebten, hoffärtig auf eigene Faust wiederherzustellen suchen.
Gewiss bestimmen die zuständigen Klassifikationen auch das Verhältnis von Stadt und Landschaft. Was auch immer die Experten über deren Zustand aufgrund ur-anfänglicher Bewirtschaftung sagen, die Touristik bewirbt Landschaft erfolgreich als „intakte Natur“, sie bleibt der Garten. Inbegriff von Unnatur, Entfernung vom Numinosen, bleibt dagegen die Stadt, die große Hure Babylon.
Nun dringen aus der fortlaufenden Medienerzählung, die seit den Siebzigerjahren dem Naturnuminosen mit Inbrunst angehängt werden, neuerdings immer wieder Nachrichten herüber, die aus dem Konzept herausfallen.
Berlin verfügt über einen außerordentlichen Reichtum an Vogelarten. Wanderfalken verwandeln die Gebäude in Felslandschaften, insofern sie an deren unzugänglichen Stellen nisten – um von dort Raubzüge auf die Tauben zu unternehmen, die bei manchen menschlichen Stadtbewohnern ebenso verhasst sind wie bei anderen der Stadthund; die Straßentaube als Inbegriff von Unnatur und Hoffart.
Rotten von Wildschweinen kommen aus der Landschaft in die Stadt. Insbesondere wühlen sie sich durch die Gärten der Villenviertel; die Behälter mit dem Biomüll bieten ihnen jede Menge Leckeres, und sie lassen sich nur schwer vertreiben. Vergleichbares habe ich mir aus Kanada von den Eisbären erzählen lassen, die an Stadträndern die Müllcontainer plündern und so ihren Status als ungezähmtes Wildtier ernsthaft gefährden.
In Berlin trifft man an dieser Stelle auf die Füchse, von denen in meiner Kindheit auf dem Lande man sicher wusste, dass Tollwut sie bald ausgerottet hätte. Ausgelegte Köder mit Medikamenten, Schluckimpfung also, dämmten die Fuchstollwut ein.
Vierhundert Exemplare sollen sich in Berlin herumtreiben: Mir ist, wegen der Kindheitserinnerung an das angebliche Aussterben, die nächtliche Autofahrt durch den Berliner Tiergarten unvergesslich, als ein Fuchs über die Hofjägerallee schnürte – dem Kind war von der Tante, einer Jägerin, die spezielle Fußstellung beim „Schnüren“ genau erklärt worden.
Über den Fuchs als Mitbewohner der Großstadt, habe ich dem Lokalteil dieser Zeitung entnommen, informiert gegenwärtig eine Ausstellung in Zehlendorf, die der Bund für Umwelt und Naturschutz organisiert hat. Dort macht man sich dieselben Sorgen, von denen ich mir aus Kanada habe erzählen lassen: dass der Fuchs (wie dort der Bär) in der Großstadt zahm werden könnte. Das notorische Exempel bietet der Tankstellenfuchs vom Kronprinzessinnenweg, der sich von begeisterten Autofahrern artig füttern lässt.
Autofahrer wissen freilich auch von den Mardern zu berichten, die mit Lust Bremsleitungen durchbeißen. Wie die Wildschweine in den Villenvierteln erinnern sie daran, dass die Menschenart in den Tieren nicht nur fromm dem Paradiesgarten nachträumt; Tiere sind Schädlinge, wenn nicht Feinde.
Die achtzig Millionen Ratten, die in Berlin leben sollen, erwecken bei den sonst so naturreligiösen Städtebewohnern alles andere als Adorationsbedürfnisse. Dem Hass der Menschenart auf die Ratten kommt eine archaische Kraft zu; vermutlich wegen der Nahrungskonkurrenz. Ratten, habe ich mir erklären lassen, sind nicht nur gefräßig, sondern auch besonders intelligent; alle bedeutenden Lernexperimente an Tieren sind von den Forschern deshalb mit Ratten durchgeführt worden.
Hier hat nun der Punk seinen Auftritt, der eines Tages mit der zahmen Ratte auf der Schulter durch die Straßen zu schlurfen begann. Sicher, sie sollte ihn selbst und seine soziale Position sarkastisch zur Anschauung bringen. Gleichzeitig erweiterte sie sichtbar das Repertoire zahmer Stadttiere. Die neueste Errungenschaft in dieser Hinsicht bilden kleinformatige Schweine einer gewissen Rasse (deren Namen ich mir nicht gemerkt habe): Man kann sie an der Leine führen, während sie mit wackelndem Schwänzchen den Boden beforschen.
Das erste Schweinchen sah ich in der Kreuzberger Bergmannstraße, das zweite am Grunewaldsee. Jawohl, sagte der wild tätowierte Besitzer (vom Typus proletarischer Boheme), man kann sie in der Wohnung halten, denn sie lassen sich auf stubenrein trainieren; sie haben gern Menschenkontakt und eine Lebenserwartung von dreißig Jahren.
Da fragt man sich natürlich, ob der Fuchs oder der Bär wirklich – wie es die Naturreligion so strikt fordert – unbedingt als ungezähmte zu konservieren sind. Wenn sie in der Stadt leben wollen, käme es doch eher auf praktische Regelungen an. Grundsätzlich ist gegen Füchse, die wie die Spatzen Leute beim Picknick im Park belauern, um Nahrungsreste zu ergattern, ja nichts einzuwenden.
Dass der Tankstellenfuchs vom Kronprinzessinnenweg seine Fuchswürde eingebüßt habe, stellt sich bei genauerem Bedenken als eine recht kindische Menschenvorstellung über das Tierleben heraus – gespeist von Ideen über Natur als Numinosum; unberührbar: Lieber ein künstlich wild gehaltenes als ein von sich aus zahmes Tier.
Warum sollen Tierarten nicht in unserer Gegenwart die Schwelle zur Domestizierung überschreiten? Außer mit den Nutztieren auf dem Bauernhof und den Schautieren im Zoo – von denen gewiss viele ihr befriedetes Dasein genießen – mögen Städtebewohner in Zukunft in Straßen und Parks mit Füchsen und Bären Kontakt haben. Vielleicht können wir uns eines Tages sogar mit den Rotten der Wildschweine ein bisschen anfreunden, außerhalb von Gehegen.
Die zahme Ratte auf der Schulter des Punk zeigte ja bereits an, dass kategorische Abgrenzungen hier durchaus fehlen. Eher wandeln sich menschliche Vorstellungen vom Ekelhaften. So beobachtet man seit vielleicht zehn Jahren, dass in den Seen Menschen zusammen mit ihren Hunden schwimmen gehen – eine vor zwanzig Jahren gänzlich inakzeptable Vorstellung.
Ich habe erst jetzt Charles Darwins berühmtes Buch über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl gelesen, Sie wissen schon, survival of the fittest, was mit „Überleben der Tüchtigsten“ auf das denkbar Schlechteste (und Folgenreichste) übersetzt worden ist: Nach Darwins Vorstellungen ist der Tankstellenfuchs durchaus fit – während der religiös gestimmte Tierfreund ihm aufgrund seiner verstädterten Bequemlichkeit das Prädikat der Tüchtigkeit verweigern muss.
Ein zentraler Gedanke findet sich immer wieder in Darwins Monumentalerzählung der Naturgeschichte: Zu einem gegebenen Zeitpunkt ist unmöglich auszumachen, welchen Zweck die Evolution mit dieser oder jener Bildung verfolgt. Ob eine solche – Füchse in der Großstadt – den Untergang der Art einleitet oder, im Gegenteil, eine neue Stufe der fitness anzeigt, kann der Zeitgenosse niemals entscheiden.
Und weil man sich die Natur – nach Darwin – am besten als einen offenen Prozess vorstellt, bildet die eingezäunte, vorgeblich ihrer Selbstbestimmung überlassene, aus der Ferne von der sündigen Menschenart fromm angebetete „Natur“ ein ganz und gar künstliches Paradies.
MICHAEL RUTSCHKY, 58, lebt in Berlin. Im August erscheint sein neues Buch: „Berlin. Die Stadt als Roman“, Ullstein, Berlin 2001, 206 Seiten, 46,94 Mark
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