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Monsterdämmerung

Deconstructing Jack the Ripper: Zwei Bände der Trilogie „From Hell“ von Eddie Campbell und Alan Moore liegen jetzt auf deutsch vor. Prostituiertenmorde und die Gesellschaft werden kalt seziert

von MARTIN ZEYN

Im Londoner Stadtteil Whitechapel wurden 1888 innerhalb eines Monats vier Prostituierte auf grausame Weise ermordet – man fand die Leichen stets ausgeweidet vor. Der Mörder wurde nie gefasst, unter dem Namen Jack the Ripper geistert er bis heute als Nessie unter den Massenmördern durch die Zeitungen. Einer der Verdächtigen ist der Chirurg William Gull. Im 600 Seiten langen Comic „From Hell“ zeichnen Alan Moore und Eddie Campbell ein Porträt von Gull – und einer Gesellschaft, die dieses Verbrechen tolerierte. In der Story versuchen die vier ermordeten Frauen das Königshaus wegen einer Affäre von Prince Albert mit der ehemaligen Prostituierten und jetzigen Verkäuferin Annie zu erpressen. Königin Victoria selbst ordnet die Ermordung an und findet in Gull einen willigen Vollstrecker. Gull ist ein hervorragender Mediziner, ein schroffer, kalter Wissenschaftler. Er behandelt seine Patienten wie Präparate, er genießt es, Leiber aufzuschneiden. Die Art und Weise seines Mordens transformiert die Körper zu etwas Höherem, verleiht ihnen Dauer wie den um 1900 sehr beliebten ägyptischen Mumien, denen auch die Eingeweide entnommen wurden. Alan Moore erzählt seine Auslegung der Whitechapel-Morde bedächtig. 30 Seiten allein beansprucht die Schilderung einer Kutschfahrt durch London, bei der Gull heidnische und mythologische Plätze aufsucht – um am Ende den fünfzackigen Druidenstern auf dem Stadtplan zu zeichnen. Moore seziert den Chirurgen Gull und beschwört damit die Mischung von klarem Intellekt und manischer Versponnenheit herauf, die die exakt ausgeführten Morde kennzeichnet. Für sein Szenario hat er die zahlreichen Bücher über Jack the Ripper gelesen, ist die historischen Orte abgegangen, hat alte Stadtpläne eingesehen. Im 26-seitigen, dreispaltig gedruckten Nachwort legt Moore die Quellen offen – und relativiert sie. Er macht immer wieder deutlich, dass er Details nach ihrem nutzbringenden Einsatz für den Verlauf der Geschichte ausgewählt hat. Heraus kommt das Porträt einer Klassengesellschaft, die kalt, berechnend und voller Überheblichkeit den Tod von Menschen befiehlt und befürwortet. Die chirurgische Präzision, mit der die Tat durchgeführt wird, und die administrative Duldung des Verbrechens sind für Moore Verläufer der großen Verbrechen des 20. Jahrhunderts. 1888, im Jahr der Morde, so rechnet Moore nach, wird in Braunau Adolf Hitler gezeugt. Monsterdämmerung.

Doch nur äußerst selten ist Moore so aufdringlich und direkt. Vielmehr nutzt er die Massenmörderkonjunktur dazu, eine Sozialgeschichte des Viktorianismus zu zeichnen: Er zeigt, wie die Prostituierten eine echte Kopulation vortäuschten oder wie Absteigen Sitzplätze zum Übernachten verkauften und die Schlafenden mit einem Seil vor dem Umfallen sicherten. Dieser aufwändige, manchmal allerdings langatmige Realismus zeichnet fast alle Arbeiten von Moore aus. 1986 ließ er im Comicklassiker „Watchmen“ (bei Carlsen ist gerade eine Neuauflage erschienen) eine gealterte Superheldentruppe in Zynismus, Alkohol und Menschenverachtung enden. Moore ist der größte Comic-Psychologe der Gewalt nach Wilhelm Busch – und ein ebensolcher Schwarzseher.

Schwarz-weiß sind auch die Zeichnungen von Eddie Campbell. Seine Panels sind taktisch angelegt. Lange zeigt uns Campbell nicht Gulls Gesicht, sondern nur dessen Handlungen. Nach 53 Seiten endlich eine Frontalansicht: Kein Monster ist zu sehen. Ein ehrenwerter Bürger, der Arzt von Prince Albert, steht vor uns und wird in aller Ruhe einen operativen Eingriff vornehmen, um den Verstand des Opfers zu tilgen. Es ist Annie, die Geliebte von Prince Albert.

Alan Moore und Eddie Campbell haben „From Hell“ den ermordeten Frauen gewidmet, deren Leben und Eigenschaften sie mit großer Sorgfalt nachzeichnen. Die Huren sind nicht bloße Opfer eines berühmten Mörders. Ein größeres Lob gibt es nicht für eine Jack-the-Ripper-Geschichte.

Alan Moore/Eddie Campbell: „From Hell“, Band 1, 2. Aus dem Englischen von Gerlinde Althoff. Thomas Tilsner Verlag, Bad Tölz 2000/1, 196 Seiten, je 32 DM

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