: Kein Nährboden für Frieden
von KIM MEHMETI
Auch Mazedonien hat nun definitiv das Schlachthaus betreten, das sich Balkan nennt. Und die Bewohner dieses Staates, von ihren irrealen ethnischen Träumen berauscht, warten nun darauf, dass das Gemetzel beginnt oder womöglich doch noch jemand von außen sie davor bewahrt. Dadurch beweisen die politischen Eliten in Mazedonien, dass sie aus den bisherigen Tragödien in dieser Region keine Lehren gezogen haben. Sie zeigen vielmehr, dass die Geschichte eine Lehrerin ist, von der bislang noch niemand etwas gelernt hat. Die Menschen auf dem Balkan, die sich schon so oft eine eigenständige Zukunft erträumt haben, sind trunken von ihrer blutigen Vergangenheit.
Der Konflikt zwischen den bewaffneten Albanern und dem mazedonischen Staat, der trotz der aktuellen Friedensverhandlungen von Ohrid immer noch die Ausmaße eines albanisch-mazedonischen Krieges annehmen könnte, ist das Ergebnis der politischen Fehler der letzten zehn Jahre. Und er zeigt, dass Mazedonien zur Geisel des Dilettantismus der politischen Eliten geworden ist, die ein Jahrzehnt unfähig waren, die zwischenethnischen Probleme zu lösen. Das Chaos in Mazedonien wurde zuletzt noch verstärkt durch Fehler, die die internationale Gemeinschaft auf dem Balkan schon oft gemacht hat: Der Westen begreift nicht, dass man mit Politikern, die Meister des Chaos sind und die sich nur vom Hass auf die jeweils andere Bevölkerungsgruppe leiten lassen, keinen Frieden machen kann.
Zehn Jahre lang bauten sie in einem „demokratischen“ und multiethnischen Mazedonien politische Sekten auf, die sich, anstatt sich dem Aufbau staatlicher Institutionen zu widmen, lediglich persönlich bereicherten. Mazedonien steht trotz des ausgehandelten Kompromisses im Sprachenstreit und der Verhandlungen über eine Polizeireform an der Schwelle eines Bürgerkrieges. Und das hat mit politischer Partizipation zu tun: Zwar sitzen fünf Albaner im mazedonischen Kabinett, aber die wichtigsten Institutionen stehen nach wie vor unter der Kontrolle der slawischen Volksgruppe. So sind von 293 im Außenministerium Beschäftigten nur 24 Albaner. Beim Zoll arbeiten von 836 Beamten und Angestellten nur 61 Albaner. Beim Innenministerium sind unter den 9.800 Beamten und Angestellten nur 540 Albaner. In einem Staat, in dem die Albaner etwa 30 Prozent der Bevölkerung stellen, beträgt der Anteil derer, die an den Schaltstellen der Macht, in Gerichten und Krankenhäusern arbeiten, nicht mal zwei Prozent.
Nach zehn Jahren des Irrsinns wird klar, dass Mazedonien eine Verfassung hat, die nicht zu seiner multiethnischen Realität passt. Seit 1991 wurde im Parlament nicht ein albanischer Antrag oder Gesetzentwurf angenommen, außer vielleicht dem Gesetz darüber, welche Chemikalie die Beste sei, um den Mücken den Garaus zu machen, die allen Bürgern Mazedoniens das Blut aussaugen. Zehn Jahre lang haben die Albaner gefordert, dass in ihren Schulen bis zur Hochschulreife in der eigenen Sprache unterrichtet werden kann. Sie wiesen darauf hin, dass in einem Staat, in dem 60 Prozent Slawen leben, die bereits zwei Universitäten haben, auch die 30 Prozent Albaner ein Recht auf eine muttersprachliche Universität haben. Die slawischen Eliten sagten, die Dinge ließen sich nicht über Nacht realisieren.
In dieser zehnjährigen Nacht führte der Staat den Dialog mit den Albanern auf eigene Weise. Als die Albaner im Juli 1996 ihre Fahne vor dem Rathaus von Gostivar hissten, einem Ort, in dem sie die Mehrheit stellen, schickte die Regierung die Polizei. Und die tötete fünf Albaner, knüppelte hunderte krankenhausreif und warf Unzählige ins Gefängnis, unter ihnen der Präfekt von Gostivar. Ein Jahr vorher, als die Albaner die Universität von Tetovo gründeten, hatte die Regierung ebenfalls Polizeikräfte geschickt, die die Jugendlichen verprügelten und die Initiatoren verhafteten.
Zehn Jahre lang baute Mazedonien eine „multikonfessionelle“ Gesellschaft auf, indem es die orthodoxe Religion in den Rang einer Staatsreligion erhob. In zehn Jahren schuf der Staat eine „multiethnische“ Gesellschaft, indem er die Kultur der slawischen Ethnie zur dominierenden machte. Dabei frustrierte Mazedonien die jungen Albaner ebenso wie die kulturellen und wissenschaftlichen Eliten.
Die albanischen Parteien, die sich der Unzufriedenheit der Bevölkerung, die sie repräsentieren, bewusst waren, versprachen in den Wahlkampagnen das Paradies. Aber als sie sich in den weichen Minister- und Direktorensesseln niedergelassen hatten, lieferten sie nur noch Ausreden, weswegen sich die berechtigten Anliegen der Albaner nicht umsetzen ließen.
Dies hat dann zur Bildung zweier ethnischer Lager geführt, die sich über die Jahre immer weiter voneinander entfernten – ohne eine verbindende Brücke. Und so kam es im Februar dieses Jahres zu den ersten Zusammenstößen in Mazedonien, in Tanusevci, einem Dorf mit hundert Einwohnern an der mazedonisch-kosovarischen Grenze. Während die Besonnenen sagten, solche Kämpfe könnten sich als sehr gefährlich erweisen für einen Staat mit solch brüchigen Institutionen und angespannten ethnischen Verhältnissen, verschärften die ethnisch mazedonischen Eliten den Konflikt noch durch ihr Vokabular: Die Unzufriedenheit der Albaner mit ihrer Rolle im gemeinsamen Staat spielte für die slawischen Mazedonier keine Rolle. Sie bestanden darauf, die aufständischen Albaner als „Terroristen“ zu bezeichnen, anstatt deren Organisation beim Namen zu nennen: UÇK, Nationale Befreiungsarmee.
Und dadurch wurden sie letztlich Geiseln ihres eigenen Vokabulars. Denn heute sind sie mit einer Situation konfrontiert, in der die albanische Bevölkerung der UÇK derart starke Sympathien entgegenbringt, dass es von Tag zu Tag wahrscheinlicher wird, dass bald der Begriff „Terroristen“ auf die gesamte albanische Bevölkerung angewendet wird. Es gibt zwar viele Albaner, die einen bewaffneten Konflikt zur Lösung der Probleme in einem demokratischen Staat ablehnen. Aber es gibt keine Albaner mehr, die glauben, dass Mazedonien ein demokratischer Staat ist, der sich auf eine multiethnische Gesellschaft gründet.
Wäre Mazedonien Beispiel eines demokratischen und multiethnischen Konzepts, würde es heute nicht die ethnischen Mazedonier bewaffnen, so wie es das Innenministerium derzeit tut. Es würde auch nicht so ohne weiteres die Siedlungen der Albaner dem Boden gleichmachen. Es würde verstehen, dass es mit fünf Hubschraubern und zwei Flugzeugen nicht zu einer militärischen Supermacht wird und dass sein Problem nicht mit Waffen, sondern nur durch einen Dialog zu lösen ist.
Aber es gibt auch noch die zweite Konfliktebene in Mazedonien, die daher rührt, dass internationale Institutionen Mazedonien zu einem „erfolgreichen Beispiel des multiethnischen Konzepts auf dem Balkan“ erklärten, obwohl sie genau wussten, dass das Land lediglich ein Beispiel dafür war, wie eine multiethnische Gesellschaft kriminalisiert werden kann.
Die Institutionen Westeuropas, die gerne gezeigt hätten, dass nicht alles auf dem Balkan gescheitert ist, waren beflissen, Mazedonien zu einem erfolgreichen multiethnischen Konzept zu erklären, obwohl sie wussten, dass dieses Konzept eine Illusion ist in einer Gesellschaft, die die multiethnische Realität nicht institutionell unterstützt.
Heute, da alle Bürger Mazedoniens darauf warten, dass sie das Schlachthaus Balkan betreten oder dass womöglich doch noch ein Gott daherkommt, der sie rettet, hört keiner die Rufe derjenigen, die sagen, dass Mazedonien ohne westliches militärisches Eingreifen nicht vor dem Blutvergießen gerettet werden kann. Aber Westeuropa betritt den Balkan abermals als „verletztes Fräulein“ und hat nicht begriffen, dass es zur Geisel der eigenen Selbsttäuschung geworden ist, des Glaubens daran, dass diejenigen das Land aus der Kriegsgefahr herausführen können, die es in diese Situation hineinmanövriert haben.
Immerhin ist es nicht unwahrscheinlich, dass Europa auf dem blutigen Balkan schon bald eine aktivere Rolle spielen wird. Wer weiß, vielleicht ist Mazedonien die letzte Chance, bei der alle verstehen lernen, warum Europa immer so verwirrt ist, wenn es dem Balkan gegenübersteht: Weil es sein eigenes wahres Gesicht erkennt. Europa fürchtet sich vor dem Spiegel, der es daran erinnert, dass der Balkan nur Teil seiner selbst ist. Denn hier gibt es genug Massengräber, verbrannte Erde und weinende Kinder. Am blutigen Relief des Balkans sind nicht nur die Menschen auf dem Balkan schuld!
Übersetzung: Fabian Schmidt
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