: Die Mauer mit zwei Seiten
Der 40. Jahrestag des Mauerbaus an der Grenze von Kreuzberg und Mitte: Mit Baumaterial, Zollstock und Akkuschrauber wird eine neue Betonwand errichtet. Bauherrin ist die zwangsvereinigte SED
von DIRK HEMPEL
Die Markgrafenstraße in Kreuzberg, am 13. August: An der Grenze zwischen Kreuzberg und Mitte gehen etliche Mannschaftswagen der Polizei in Position. Die Straße wird für den Durchgangsverkehr gesperrt. Nur ein DDR-Lastwagen wird durchgelassen – „VEB Narva Rosa Luxemburg Glühlampenwerk“ steht auf der Tür. Seine Ladung: Baumaterial.
Dann geht es schnell: Junge Leute in Arbeitskluft, ausgestattet mit Zollstock und Akkuschrauber beginnen mit dem Aufbau einer Mauer. Auf dem Kopf eine Mütze der Volkspolizei, überwacht ein Mann die Arbeiten mit strengem Blick.
Er ist nur ein Handlanger. Die wirklich Verantwortlichen tauchen erst auf, als das historische Bauwerk schon fast fertig ist: Ein Vertreter der SED nähert sich. Es ist Otto Feder, Sprecher der Partei. Kaum ist der Mann mit blütenweißem Hemd, Krawatte, kurzen Haaren und Sonnenbrille eingetroffen, tritt auch schon einer der absperrenden Polizisten an ihn heran: „Kommt jetzt gleich noch so etwas wie ein Redebeitrag?“, fragt er den Parteivertreter vorsichtig.
In der Tat: Feder hat eine Rede vorbereitet. Neben der Mauer wird noch schnell ein Schlagbaum errichtet. Schilder warnen: „Wer uns angreift, wird vernichtet.“ Dann ergreift der SED-Vertreter das Wort: „Hier sprechen die Sicherheitskräfte der SED“, ruft er den versammelten Schaulustigen zu. Und unumwunden gesteht er: „Der mündige Bürger ist hier nicht erwünscht.“
Mit durchdringender, entschlossener Stimme erklärt Feder das Anliegen seiner Partei. Die SED (Wahlspruch: „Wir sind wieder da“) will den Berliner Hochbau fördern und damit Arbeitsplätze in der Hauptstadt sicher. Sie will Schluss machen mit einer diskriminierenden Hetzkampagne in den Medien: „Mauern müssen ihren Platz in unserer Gesellschaft haben“, fordert Feder. „Es gibt kein Grundrecht auf den Abriss von Mauern – ohne Mauern würden wir doch alle auf der Straße wohnen.“
Es müsse Schluss sein mit der einseitigen Verurteilungspolitik, sagt der SED-Sprecher: „Schließlich hat doch alles im Leben zwei Seiten – erst recht eine Mauer.“ Die Partei gibt sich allerdings durchaus geschichts- und verantwortungsbewusst: Künftig solle bei allen noch zu bauenden Mauern sichergestellt sein, dass „alle auf der richtigen Seite der Mauer leben“.
Die Aktion am 40. Jahrestag des Mauerbaus ist für die KPD/RZ-Nachfolgepartei ein voller Erfolg. Sie soll die Kampagne für die Bezirkswahlen der erst Mitte Juli zwangsvereinigten SED einleiten. Seit dem Fallschirmsprung des FDP-Politikers Jürgen Möllemann sei schließlich klar, „dass es in der Politik auf Spektakel ankommt“, so Feder.
Die Dienst habenden Polizisten sind jedenfalls angetan. Ein Lächeln huscht immer wieder über ihre Gesichter, mit Fotoapparaten halten sie das historische Ereignis fest. Ob die SED sich am 21. Oktober auch ihrer Stimmen erfreuen kann, lassen sie aber offen: „Ich weiß noch nicht, was ich wähle“, erklärt ein Beamter. „Aber ich gehe auf jeden Fall hin.“ Die SED gibt ihm noch einen letzten Tipp: „Nicht falten, sondern ankreuzen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen