: Minimalrechte in einer Verwahranstalt
Seit Anfang August hungern in der Strafanstalt Tegel, Europas größtem Gefängnis, Inhaftierte für bessere Haftbedingungen. Der Berliner Justizsenator Wolfgang Wieland und seine grüne Partei sind Hoffnungsträger – sagen die Insassen. Der Senator macht viele Versprechungen – passiert ist noch nichts
von PETRA WELZEL
Die Sonnenstrahlen, die durch die auf zwei Meter Höhe eingemauerten Gitterstäbe fallen, tauchen P.s Zelle in ein warmes Licht. Und heizen den handtuchschmalen, schlauchigen Raum auf. In der Kloschüssel gleich rechts hinter der Zellentür stinken Kotreste in der stickigen Luft vor sich hin. Überall sind Zeitungen verteilt, stapeln sich an den Wänden. Mittendrin liegen einige geplatzte rohe Eier.
Beim Hofgang haben andere Gefangene die Eier von außen in P.s Zelle geworfen. Weil er kleine Kinder angefasst habe. „Kinderficker“, wie sie P. nennen, sind in der Knasthierarchie das Allerletzte. Das letzte Loch ist noch viel zu gut für sie. Die anderen Häftlinge lassen das P. spüren. Tagtäglich – Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel, Europas größter Knast, Deutschlands größtes Männergefängnis, Teilanstalt I, eine Momentaufnahme.
P. hat schon oft protestiert. Gegen seine Behandlung. Gegen die Haftbedingungen. Gegen zu kleine Zellen, miserables Essen, lange Einschlusszeiten, mangelnde Waschgelegenheiten, willkürlich handelnde Beamte und Teilanstaltsleiter, unfähige Sozialarbeiter, unqualifizierte Gruppenleiter. Hat Briefe geschrieben an die Anstaltsleitung, und an den Senat. Hat sich verweigert. Hat gestreikt – und nie etwas erreicht. Auch in den Augen der Anstaltsleitung ist P. das Allerletzte. Ein Sexualstraftäter. Ein notorischer Nörgler. Einer, der nervt.
Seit dem 1. August dieses Jahres ist P. nicht mehr allein. In der Teilanstalt III waren rund 50 Inhaftierte in den Hungerstreik getreten, um zunächst nicht mehr als ein Gespräch mit einem Vertreter der Senatsverwaltung für Justiz über die Haftbedingungen in Tegel zu erwirken. Binnen einen Tages weitete sich der Hungerstreik auf die Teilanstalten I und II aus. In Letzterer ist er bis heute nicht beendet. Ein Flächenbrand in den unter Denkmalschutz stehenden drei alten Backsteinhäusern aus der Kaiserzeit.
Zu behaupten, die Zeit in den alten Gemäuern wäre stehen geblieben, ist nicht übertrieben. Noch heute sind etliche Zellen nicht mit elektrischem Licht ausgestattet. Und über die Qualität einer kaiserlichen Verwahranstalt ist Haus II im Wesentlichen nicht hinausgekommen: Inhaftierte, die in einem der Anstaltsbetriebe einer Arbeit nachgehen, sind ansonsten jeden Tag 14 Stunden und 15 Minuten eingeschlossen. Diejenigen ohne Arbeit sogar 19[1]/2 Stunden. Dabei dürfen sich Hafträume in der Größe von P.s Zelle manchmal zwei Gefangene teilen.
Bereits am 9. Juli hatte der Grüne und derzeit in Tegel einsitzende Wieland Herrmann an seinen Parteikollegen, den neuen Senator für Justiz, Wolfgang Wieland einen Brief geschrieben, in dem er auf die unverantwortlichen Zustände in der Justizvollzugsanstalt aufmerksam machte. „Die Juristenfloskel ‚Gefahr im Verzug‘ bekommt hier jeden Tag eine neue Bedeutung“, ist dort an zentraler Stelle zu lesen. Und im Folgenden wird klar, auf welche Parteilinie der Gefangene aus Haus III den obersten Justizbeamten der rot-grünen Übergangsregierung bis zur Neuwahl im Oktober bringen will: „Sie, als erster grüner Justizsenator, sollten dringend den Wahlkampf mit dem Nützlichen verbinden und die erforderlichen Strukturveränderungen im Berliner Strafvollzug angehen, um dadurch auch das sicherheitspolitische Totalversagen der großen Koalition und besonders der CDU öffentlich zu machen.“
Nur zwei Tage zuvor hatte Wolfgang Wieland zu seiner Rolle als Übergangssenator gesagt, er wolle „nicht einmal einen Kaktus verrücken“. Auf den Brief seines Parteikollegen hat er jedenfalls nicht geantwortet.
Dieser sah sich 10 Tage später erneut veranlasst, dem Justizsenator zu schreiben. Ein Mithäftling hatte seine Zelle auf der Abschirmstation B 1 angezündet. Wieland Herrmann führt die Tat auf die „unglaublichen Haftbedingungen“ dieser Station zurück. Von weiteren brenzligen Situationen ist die Rede. Herrmann resümiert: „Eskaliert die Lage, würde der jetzigen Koalition schwerer Schaden zugefügt. Aus vielen Gesprächen wissen wir, dass Sie und Ihre Partei ein Hoffnungsträger für die Insassen waren und sind.“
Wer dieser Tage durch die JVA Tegel streift, bekommt vom Hungerstreik nichts mit. Nirgendwo hängen Transparente aus den vergitterten Fenstern. Niemand macht die Besucher von draußen auf die Situation aufmerksam.
Unlängst durften die Gefangenen der Teilanstalt V – einer der drei Neubauten und das Haus der „Lebenslänglichen“ – ihre externen Vollzugshelfer zum jährlichen Grillabend einladen. Durch die Anstalt zog der Duft frisch gegrillten Fleisches wie sonst zu Picknick-Stoßzeiten im sommerlichen Tiergarten. In den Höfen der fünf anderen Häuser zogen die derzeit 1.700 Häftlinge in Tegel motorisch ihre Kreise während der Ausgangsstunde. Oder lagen einfach mit nacktem Oberkörper in der Sonne. Wer hier streikt und wer nicht, ist nicht auszumachen.
Das weiß nur die Anstaltsleitung, für die die Gefangenen den so genannten Vormelder ausfüllten, auf dem sie mitteilen, dass sie die Anstaltskost verweigern. Mit dem gleichen Papier beantragen sie das Wäschewaschen, einen Ausgang, einfach alles. Die Vollzugsbeamten führen darüber genau Buch.
Die weiterhin mehr als 50 Hungerstreikenden der Teilanstalt II haben sich wie schon Wieland Herrmann aus dem Haus III bisher lediglich mit einer Protestnote an den Justizsenator gewendet. Auch sie beklagen die Überbelegung, lange Einschlusszeiten, das mangelnde Freizeitangebot, Kürzungen beim Personal, vor allem den Wegfall von Gesprächs- und Gestaltgruppen durch externe Mitarbeiter. „Stattdessen sind wir in unseren Löchern eingeschlossen, sprechen irgendwelche Action-Filme oder Daily-Soaps mit, nicht wenige von uns sind mit irgendwelchen Serienstars vertrauter als mit unseren Angehörigen. Das kann unmöglich erklärtes Ziel der Inhaftierung sein“, heißt es im Schreiben der Streikenden vom vergangenen Wochenende.
Wieland Herrmann und die anderen Hungernden aus Haus III und I haben ihren Streik vorläufig seit dem 4. August ausgesetzt. Zuvor war der Referatsleiter des Strafvollzugs im Senat, Wolf-Dieter Krebs, zu einem ersten Gespräch ins Gefängnis gekommen und hatte weitere Gespräche zugesagt. Wolfgang Wieland hatte von draußen versprochen, „kleine Dinge“ wie die langen Einschluss- und die zu kurzen Duschzeiten von nur drei Minuten „sofort zu ändern“. Geändert hat sich bis heute nichts. Kein Kaktus wurde verrückt und den Abriss der Altbauten für den Aufbau von Neubauten hat der Justizsenator schon mal gleich auf die nächste Legislaturperiode des neuen Senats verschoben.
Blickt man nicht nur hinter die fetten Mauern in Tegel, sondern auch hinter die der Justizverwaltung, sieht man einen ringenden Senator. In seinem Hause wurden die Briefe Herrmanns vom Juli bis zum 1. August verschleppt. Mit einem eiligen Fax vom selben Tag versuchte Wielands Büro, den angedrohten Streik abzuwenden: „Zu meinem Bedauern ist Ihr Schreiben vom 09. Juli 2001 . . . erst gestern bei Herrn Senator Wieland eingegangen“, schreibt dessen Referentin Diana Krusche und kündigt unverzügliche Klärung des Sachverhalts an. Drei Tage später behauptet der Senator, die Anstaltsleitung hätte auf seine Veranlassung sofort eine Umfrage unter den Gefangenen gemacht. Tatsächlich wurde kein Häftling befragt. Und ihre konkreten Vorwürfe etwa über die Nichtzulassung von Ausländern zum Schulunterricht wurden nicht zur Kenntnis genommen. Wieland sagt, es gäbe nur „pauschale Beschuldigungen“.
Der CDU-Spitzenkandidat Frank Steffel hat den Hungerstreik unterdessen als Wahlkampfthema entdeckt. Der Justizsenator, meint Steffel, lasse sich „offensichtlich von den Häftlingen erpressen, anstatt sich um die Opfer und Verfolgung von Straftaten zu kümmern“.
Von den Hungernden in Haus II verweigern über 30 die Anstaltskost, 20 jegliche feste Nahrung. Mehr als sechs Kilo haben Einzelne in den letzten zwei Wochen abgenommen. Sie wollen nicht aufgeben, bevor wenigstens ein Teil ihrer Forderungen erfüllt wird. Dazu zählt auch die Installation einer Notsignalanlage wie in den anderen Häusern der Anstalt. Wer etwa einen Herzinfarkt erleidet, für den könnte jede Hilfe zu spät kommen, da er nur rufen oder gegen die Zellentür bollern kann. Eine Woche lang haben die Insassen von Haus II die Reaktionszeiten der Beamten getestet: der schnellste kam nach 57 Minuten, der langsamste nach über 2 Stunden.
Auch Wieland Herrmann hat sich gestern zurückgemeldet. Für heute ist ein weiteres Gespräch mit der Senatsverwaltung zugesagt. Gerade der derzeitige Strafvollzug produziere Rückfällige, meint Hermann. „Die Gefangenen fordern keine goldenen Käfige, sondern wollen daran erinnern, dass auch Inhaftierte Bürger sind, denen wenigstens die im Gesetz formulierten Minimalrechte zugestanden werden müssen.“ Im Paragraf 2 des Strafvollzugsgesetzes stehe die Resozialierung als erstes Vollzugsziel, erst im zweiten Satz folgt der Schutz der Bevölkerung. „Beide, Täter und Gesellschaft, haben ein Recht auf Resozialisierung“, sagt Herrmann.
Und er sagt auch: „Wir wollen uns gar nicht ausmalen, was passiert, wenn Steffel gewählt wird. Aber eines ist sicher: Dann wird es nicht beim Hungerstreik bleiben.“ Den werden sie wieder aufnehmen, falls die Senatsverwaltung ihr Versprechen nicht hält und weiteren Gesprächsrunden fernbleibt. Der Senator sagte gestern, der Dialog werde fortgesetzt und die ersten Sofortmaßnahmen seien „nur noch eine Frage von Tagen“.
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