: Manchmal wirken auch Placebos
■ Ritalin-Streit: Kinderärzte sollen Diagnose künftig selber durchführen und abrechnen dürfen. Kritiker befürchten dadurch für die Zukunft mehr Fehldiagnosen
Nicht nur in der Schulbehörde, auch in der Ärzteschaft tut sich einiges zum Thema Ritalin. Fünf Kinderpsychiater haben kürzlich einen „Sachverständigenrat“ zur Versorgung und Qualitätssicherung der Behandlung von Kindern mit seelischen Erkrankungen gegründet. Erster Arbeitsschwerpunkt solle das „Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“, ADS, sein, bei dem man zunächst eine „Analyse der derzeitigen Zunahme an Verdachtsdiagnosen und Behandlungsanfragen machen wolle“, heißt es in einer Pressemitteilung des Landesvorsitzenden der Hamburger Kinderpsychiater, Tobias Wiencke. Auch wolle man die „Auswirkungen eigenen ärztlichen Tuns“ auf gesellschaftliche Zusammenhänge reflektieren.
Wie berichtet, ist die Zahl der Verordnung von Ritalin für Kinder und Jugendliche, die möglicherweise an diesem Syndrom leiden, seit 1997 rapide gestiegen. Eine Entwicklung, die selbst der Hamburger Senat in der Antwort auf eine Große Anfrage als „zunehmendes Problem“ bezeichnete.
Zum gleichen Thema hatte sich bereits im April ein weiterer Arbeitskreis gegründet, dem neben der Elterngruppe von ADS-Kindern auch der Leiter des Werner Otto-Inistuts, Christian Fricke, die bezirklichen Schul-Beratungsstellen und der Vorsitzende des Landesverbands der Kinderärzte, Michael Zinke, sowie andere auf ADS spezialisierte Ärzte angehören. Ziel dieses Kreises ist es laut Zinke, bis zum Herbst einen Qualitäts-Leitfaden zu erstellen, an den sich niedergelassene Kinderärzte halten sollen, wenn sie ADS diagnostizieren. Im Gegenzug soll es für diesen Aufwand auch eine Pauschale geben, die die Kinderärzte mit den Kassen abrechnen können.
Er habe die Sorge, dass die „diag-nostischen Fähikeiten nicht bei allen vorhanden sind“, sagt der Leiter des Werner-Otto-Instituts, Christian Fricke. Für die Feststellung, ob ein Kind tatsächlich besagtes ADS-Syndrom hat und ob dies überhaupt so alltagsrelevant ist, dass es Ritalin benötigt, sind nach Expertenauffassung mehrere sehr aufwendige Tests nötig. So müsse ausgeschlossen werden, ob das Kind nicht an anderen Lernstörungen leidet. Fricke: „Es ist erstaunlich, wie viele Lehrer Eltern nicht den Weg zeigen, den die Schulbehörde für sie bereithält.“ Auch sei ein „großes Fragezeichen“ hinter der Diagnose ADS zu machen, wenn das Kind sich nur in einem Lebensbereich, also nur in der Schule oder nur in der Familie, auffällig verhalte.
Das Werner-Otto-Institut nehme Kinder sogar stationär auf, um sie auf ADS zu testen. Dabei bekämen die Kinder auch Placebos verabreicht, ohne das die Betreuer dies wüssten. Fricke: „Das führt zu interessanten Ergebnissen.“ Mitunter gäben auch Eltern ihren Kindern Placebos, um die Reaktion in der Schule zu erproben. Fricke: „Es gibt dann durchaus die Rückmeldung der Lehrer, der war die ganze Woche besser.“
„Von hundert Kindern, die mit ADS-Fragestellung zu uns von Ärzten überwiesen werden, gibt es nach meiner Schätzung nur fünf, bei denen wir dieser Diagnose zustimmen“, sagt auch Christiane Flehmig vom Zentrum für Kindesentwicklung in Barmbek.
Etwas andere Zahlen hat Michael Zinke, der sagt, dass „Ritalin eher zu wenig als zu viel verschrieben wird“. Zwar gebe keinen Test, „der hundertprozentig belegt, ob es ADS ist“, so Zinke. Es gebe aber eine „Erfolgsquote von 80 Prozent bei behandelten Kindern“. Bei den übrigen 20 Prozent, bei denen es nicht wirke, seien „umweltreaktive Probleme“ zu vermuten.
„Ritalin ist wirksam, egal ob Kinder ADS haben oder nicht“, sagt hingegen der Psychologe und Vorsitzende des Kinderschutzbundes, Wulf Rauer, der lieber „einmal weniger als einmal zuviel“ Ritalin verordnet wissen möchte.
Die Grauabstufungen in dieser Diskussion, die alle Beteiligten gern versachlicht sehen wollen, sind recht groß. Christiane Flehmig, als Kinderneurologin und Familientherapeutin eine Autorität, hält nach der öffentlichen nun eine „Diskussion in Fachkreisen“ für dringend nötig. Sie zweifelt aber auch, dass der eingeschlagene Weg, Kinderärzte mit Leitfaden auszustatten, „tatsächlich zu Qualitätssicherung beiträgt“. Oder ob dies nicht einfach nur zur „weiteren Verbreitung fraglicher ADS-Diag-nosen“ führe. Kaija Kutter
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