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Karst, Wein und Worte

Und für einen Abend wird ein zu groß geratenes Dorf auf dem Karst zur Metropole der Poesie: Eine nostalgische Reise durch Slowenien, dort, wo sich die verschiedensten Ethnien bis zur Unkenntlichkeit mischen und Städte keinen Platz haben

von BALDUIN WINTER

Vom Karst möchte ich erzählen, von der Landschaft, vom Wein, von Dichtern, von Slowenien. Vor hundert Jahren war das eine gottverdammte Gegend, abgeholzt die Wälder, auf denen der Reichtum Venedigs sich erhob, Hölzer, aus denen Flotten gezimmert worden waren. Das Land oberhalb von Triest hingegen kargte vor sich hin, mehr Steine als Pflanzen, im Winter drückten die Stürme das Krüppelgehölz zu Boden, aus dem die wenigen Bauern mit Mühsal kaum das herausholten, was sie zum Leben brauchten. Die Städter aus Görz und Triest blickten mit Verachtung auf die elenden, aus Stein geschichteten Hütten mit Dächern aus Schieferschindeln.

Doch rauften sich viele Herrscher um das Land, mindestens dreimal pro Jahrhundert wechselte es seinen Besitzer, änderten sich Amtssprache und Staatsbrauch, denn in dieser kleinen europäischen Ecke stoßen drei große Kulturräume zusammen, der romanische, der slawische, der germanische, hier mischen Ethnien sich bis zur Unkenntlichkeit, sofern Ethnien überhaupt irgendetwas Kenntliches haben.

Der Mucha, der Wirt bei der Kirche von Lokev, einem Bauernort südlich des Lipizzanergutes, weiß darüber viel zu berichten. Seine Familie, erstmals 1600 erwähnt, führt seither durchgehend die örtliche Gastwirtschaft. Mucha spricht neben seiner slowenischen Muttersprache Italienisch, Deutsch und Kroatisch; das hat in der Familie Tradition – binnen einem Jahrhundert waren erst die Habsburger da, dann die Italiener, dann die Kroaten, nach dem Krieg kam die Gegend zur Republik Slowenien, dabei blieb es nach dem Zerfall und der Unabhängigkeit; „aber wer weiß, was morgen wieder los ist . . .“.

In der Stube hängt ein altes Bild von 1913, als auf der Poststraße von Wien nach Triest der erste Omnibus durch Lokev verkehrte. Doch der agrarische Charakter blieb dem Landstrich erhalten. Mucha kennt Vergangenheit und Gegenwart der Region: „Das hier wird immer Land bleiben, hier haben Städte keinen Platz.“

Der Triester Scipio Slataper hatte den Karst 1912 noch als Steinwüste beschrieben: „Der Karst ist eine Landschaft aus Kalk und Wacholder. Ein furchtbarer, versteinerter Schrei. Felsen, grau von Regen und Flechten, krumm, gespalten, spitz.“ Die Steinwüste ist heute wieder stärker bewachsen, die Macchie wuchert, trotz der dünnen Krume ist die Hochebene, auf der Weinbau, Feldwirtschaft und Gartenbau betrieben werden, zum Teil sogar bewaldet, an kargeren Orten weiden Schafe. Der Landbau kann nicht in großem Maßstab betrieben werden, insbesondere die Weinrebe ist eine Pflanze, die sich industrieller Behandlung widersetzt, die individueller Pflege und des Zuspruchs des Bauern bedarf: „Mit dem Wein musst du sprechen, damit er gelingt“, lautet ein alter Bauernspruch.

Auch in Sežana, an der Eisenbahnlinie von Triest nach Ljubljana, der Hauptstadt Sloweniens, gelegen, sieht Mucha nur ein großes, seinen ursprünglichen Kleidern entwachsenes Dorf. Sežana hat ein wenig Industrie, einen großen Rangierbahnhof, ein wenig Bürokratie und etwa 10.000 Einwohner. Sežana hat nichts Besonderes, aber im Kulturhaus, benannt nach Srečko Kosovel, dem Poeten des Karsts, kann es vorkommen, dass der Besucher Zeuge einer Lesung wird, wie man sie in Berlin oder Paris vergeblich sucht.

Auf der Bühne, vor dem dunklen Faltenwurf des roten Vorhangs, nur zwei Stühle. Dann treten zwei Männer auf, ein zierlicher alter Mann mit weißem Backenbart und aristokratischen Zügen, Dane Zajc, der slowenische Altmeister der Poesie, den Ilma Rakusa in eine Reihe mit Michel Leiris und Paul Éluard stellt, und ein kräftiger Kerl mit einer Knöpferl-Ziehharmonika, Janez Skof. Zajc spricht mit feinem Mienenspiel seine Gedichte, sehr ruhig, nachdenklich bis ironisch, etwas verloren im großen Raum. Skof lümmelt daneben, unterm schwarzen Hut drängen halblange Locken wirr hervor, aufdringlich der Blick aus Basedowaugen, unruhig die Finger, endlich kann er sein Instrument aufreißen, er singt die vertonten Gedichte, das Lied drängt aus ihm heraus, wie alles aus ihm herauszudrängen scheint.

Skof ist einer, bei dem man den Eindruck hat, er teile sich durch seine ganze Physis mit, er singt um sein Leben mit seiner rauen Stimme, die sich wie Schleifpapier an der kantigen Welt reibt. Da richtet einer das Wort aus dem Karst, aus dem kleinen Slowenien an die große Welt. Und für einen Abend wird dieses zu groß geratene Dorf auf dem Karst zur Metropole der Poesie.

Srečko Kosovel wurde hier 1904 geboren. Geprägt von der Landschaft, verwendet er die kurze Zeit seines Lebens darauf, rastlos literarische und philosophische Studien zu entfalten und die europäische Klassik und Moderne in kürzester Zeit einzusaugen. Naturerleben (Karst), Existenzerfahrung (Krankheit und Todesahnung) und gesellschaftliche Umbrüche versucht er in seiner Poetik zusammenfließen zu lassen und hinterlässt mit seinem Tod 1926 ein enormes lyrisches und essayistisches Werk, das die gesamte slowenische Literatur nachhaltig prägen wird.

Auf dem Dorffriedhof von Tomaj, einem Winzerdorf, liegt ein Dichter europäischen Formats begraben, eine Stimme vom Rand, jenseits der eitlen Zentren des Kulturbetriebs. Der Salzburger Wortlandstreicher Ludwig Hartinger, den man hier oft auf Kosovels Spuren herumstreifen sieht, hat Gedichte ins Deutsche übertragen. Ich hebe mein Glas Terran auf dich und proste dir zu, dir und diesen bukolischen Hügeln, wo unter jedem Wacholderstrauch ein Arsenal an Versen verborgen ist, auch wenn Zeitgeister hier lieber Freizeitparks anlegen wollen.

Etwas nördlich, auf einer Hügelkuppe, liegt der Ort Štanjel. Eine alte Burg, heute nur noch Ruine, mit einer den Hügel umrundenden Mauer hat einst den Ort geschützt, dessen Steinhäuser nun zum Teil verlassen sind. Manche werden wieder renoviert und von Künstlern genutzt. In den intakten Resten der Burg befindet sich eine Galerie, eine Dauerausstellung des Malers Lojze Spacals, eines Kartografen der kleinen Dinge des Karsts. Anfang September, wenn das Literaturfestival von Vilenica stattfindet, wird im Burghof ein Podium für Lesungen aufgebaut, Sesselreihen, dahinter, am Ausgang, ein Tisch mit Weintrauben von der Lese, Walnüssen und Pflaumen. Während auf dem Podium lettische, kroatische, indische, russische oder österreichische Dichter ihre Werke vortragen, rezitieren oder im rhythmischen Singsang psalmodieren, während Fotografen eifrig knipsen, während das Publikum mehr oder weniger andächtig den Vorträgen folgt, während der ewige Karstwind seinen gleichmütigen Kommentar abgibt, während ich von den Trauben und Nüssen einfach nicht ablassen kann und die slowenische Gastfreundschaft hochleben lasse, während also allerlei Weltbewegendes passiert, fällt mir Peter Handke ein, der leichthin Verdammbare, der eines der schönsten Bücher über den Karst geschrieben hat.

Ich ziehe mich zurück und streife durch kleine Gassen, Zerfall und Werden, überall wuchern am Wegrand Kräuter, Ruhe ist, nur Wind und Stille und die vom Dunst gemilderte Weite der Ebene nach Süden, nach Westen, wo man hinter den Hügeln das Meer erahnen kann. Denn das ist der Karst: nichts Festes, sondern eine Landschaft der Ahnungen, und die Dichter schürfen mühselig Worte daraus, viel Wein benötigen sie dabei. Ich durchwandere die Ruhe in den schmalen Gassen, zwischen alten Steinhäusern ein abfallender Weg, überrankt vom satten, blauen Wein, eine winzige Schenke an einer Weggabelung, ein kleines Mädchen, mit Hunden spielend, eine schmale Bank am Haus, Wein und Schinken, wir prosten der Zeit zu, die dem Würgegriff der Wichtigtuer entkommen ist und hier, tief Atem holend, verschnauft, alles ist Lächeln und Wohlgefühl, die Sonnenstrahlen kriechen über die Haut, der Wein perlt in die Adern, alles fordert zum Bleiben auf. Es gibt Orte, die einem verschlossen bleiben, sosehr sie auch blenden mögen, und Orte, die geben nur ein zögerndes Lächeln preis oder flirten ein wenig, und man geht durch sie und prägt sich die unwichtigsten Kleinigkeiten ein – schließt sie eben in sein Herz, mit Menschen ist es dasselbe.

Erzählen möchte ich noch, dass ich auf der Rückfahrt ein Buch las, „Zasto sam vam lagala“ von Julijana Matanović aus Slawonien, das gibt es jetzt auf Deutsch („Warum ich euch belogen habe“). Darin schildert sie eine Szene, in der sie als Kind bei der Weinlese in den Fässern auf den Trauben herumstampft. Ich habe diese Szene ein paarmal gelesen. Als Kind war ich mit meiner tschechischen Babička bei Verwandten eines Freundes in der Nähe von Maribor, im Hügelland, im Wein. Es war Herbst, die Mauersegler sausten durch die Toreinfahrt, abends stieg der Nebel aus dem Tälchen zwischen Kastanien und Pappeln hoch. Und ich weiß noch, dieses himmlische Gefühl, auf den frisch gepflückten Trauben in den Fässern herumzustampfen und zu tanzen, dieses Gatschen und Spritzen, dieses Schwanken auf zermatschten Trauben, dieses Wälzen im Bottich, und die Bauern lachten, sie wussten, bald würde es den ersten Most geben. Später fiel mir beim Begriff „dionysisch“ oft dieses wunderbare Kindheitserlebnis ein, bei dem Unschuld und Ekstase Arm in Arm daherkamen. Und eine der schönsten Lügengeschichten meiner Oma gehört zu diesem Ort, sie unterrichtete mich, dass die Klapotetze, die Windräder in den Weinbergen, die Kinder der Windmühlen seien . . . – Das war mein allererstes Erlebnis mit Slowenien, daran wurde ich durch das Buch erinnert, das ich las, als ich von Štanjel nach Jesenice fuhr, und irgendwann dachte ich mir unterwegs, ich Trottel, ich fahre wieder einmal, ganz vernünftig, in die falsche Richtung . . . Denn wer solche Eindrücke von einem Land und solche Erinnerungen hat, der muss sich die Frage gut überlegen, was sein In-Land und was sein Aus-Land ist.

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