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200 Leichen treiben in der Seine in Paris

Schriften zu Zeitschriften: „Manière de voir“ widmet sich dem Skandalon der französischen Kolonialgeschichte

Die französische Armee foltertenicht gelegentlich,sondern systematisch

1957 – mitten im Algerienkrieg – protestierten die oppositionellen Pariser Intellektuellen gegen den Krieg. Journalisten, Beamte und Offiziere wie Henri Alleg, Francis Jeanson, Paul-Henri Teitgen oder General de Bollardière riskierten mit ihren mutigen Interventionen ihre bürgerliche Existenz. Zur gleichen Zeit verteidigte der Basler Historiker Herbert Lüthy den ausbeuterischen Kolonialismus als „europäische Weltordnung“ und „abendländische Zivilisation“. Ende letzten Jahres gestand dann General Aussaresses zum Entsetzen des regierenden Pariser Personals, was kritische Intellektuelle vor über 40 Jahren schon belegten und wofür sie ins Gefängnis oder ins Exil mussten: die französische Armee hat während des Krieges in Algerien (1954 –1962) nicht nur gelegentlich, sondern systematisch gefoltert, um aus Verhafteten Geständnisse und Informationen herauszupressen. Seither kommt die Diskussion darüber nicht mehr zum Verstummen.

Die unter dem Dach der Le Monde diplomatique erscheinende Zweimonatszeitschrift Manière de voir nimmt die aktuelle Diskussion zum Anlass, das gesamte Elend der französischen Kolonialgeschichte in einem klar strukturierten Heft vorzustellen. Wirklich Neues ist dabei nicht zu erfahren, aber die Publikation ist trotzdem enorm wichtig, denn nichts haben große Teile der französischen Bevölkerung so systematisch aus dem politisch- historischen Bewusstsein verdrängt wie ihre koloniale Vergangenheit in Indochina, Nordafrika, Madagaskar – aber auch vor der Haustür.

Auf dem Höhepunkt des Algerienkriegs, am 17. Oktober 1961, erließ der Polizeipräfekt ein Demonstrations- und Versammlungsverbot. Viele oppositionelle Algerier hielten sich nicht daran, die Pariser Polizei verfolgte sie unerbittlich. Am Tag danach fischte die Feuerwehr, wie der Historiker Jean-Luc Einaudi minutiös nachweist, 200 Leichen aus der Seine – mitten in Paris. Der verantwortliche Polizeipräfekt war der erst vor zwei Jahren verurteilte Nazikollaborateur Maurice Papon. Der Mord an den 200 Algeriern wurde gerichtlich bislang noch immer nicht verfolgt, die Akten sind teilweise verschwunden, teilweise gesperrt. Kein französisches Schulbuch enthält auch nur ein Wort zu diesem Vorfall. Der einleitende Beitrag der Redaktion zeigt, welche marginale Rolle die gesamte Kolonialgeschichte in den französischen Schulbüchern bis heute spielt.

Begonnen hatte die Kolonialgeschichte mit der Eroberung Algeriens 1830, die man noch hundert Jahre später mit einer monumentalen Ausstellung als „zivilisatorische Mission“ feierte. Selbst der Liberale Alexis de Tocqueville verteidigte, wie Olivier Le Cour Grandmaison darlegt, „das Recht Frankreichs“ zu Konfiskationen, Deportationen, Razzien und Zwangsverpflichtungen in die Armee. Zwar verbot Frankreich dank einer Initiative von Unterstaatssekretär Victor Schoelcher 1848 den Sklavenhandel. Aber unter dem Vorwand, den Sklavenhandel zu verfolgen, betrieb Frankreich in der Folgezeit eine „legitime Kolonisierung“ unter der ideologischen Flagge der „Pazifizierung“. Diese war nicht weniger brutal als der transatlantische Sklavenhandel. Victor Hugo berichtete zwar 1852 von Razzien, bei denen französische Soldaten in Algier Frauen und Kinder aus Fenstern warfen, aber in der bigotten Salongesellschaft Napoleons III. interessierte das fast niemanden. Unter der Republik nach 1870 änderte sich die französische Politik kaum. Der Erziehungsminister Jules Ferry propagierte die Ausdehnung des Kolonialreichs mit dem Argument, „die Kolonialpolitik ist die Tochter der Industriepolitik“.

Nicht einmal die Volksfrontregierung unter Léon Blum (1936–1938) betrieb mehr als kosmetische Veränderungen. So versprach Blum, wie Pascal Blanchard, Nicola Bancel und Sandirne Lemaire belegen, ganzen 20.000 von mehreren Millionen Algeriern die französische Staatsbürgerschaft und damit die rhetorisch oft beschworene „republikanische Gleichheit“. Schwer bezahlten die Algerier auch ihre Erwartung, der Sieg über den Nationalsozialismus am 8. Mai 1945 bringe auch für die Kolonisierten die Befreiung. Sie demonstrierten am 8.Mai in der Hafenstadt Sétif und griffen dabei die weißen Kolonisatoren an, wobei 300 von diesen ermordet wurden. Die Armee schlug erbarmungslos zurück und tötete rund 10.000 Algerier.

Philippe Leymarie beschreibt den Aufstand des Volks in Madagaskar im Jahre 1947. Unter dem Kommando der Generale Gallieni, Joffre und Lyautey richtete die Armee ein regelrechtes Massaker an, dem rund 90.000 Menschen zum Opfer fielen. Der Schriftsteller Gilles Perrault erzählt die Geschichte des unermüdlichen Internationalisten Henri Curiel, der im Nahen Osten für einen Ausgleich und einen Frieden zwischen Arabern und Israelis kämpfte. Das äußerst verdienstvolle Heft enthält neben Kurzbesprechungen auch ausführliche Literaturlisten zu den einzelnen Aufsätzen.

RUDOLF WALTHER

„Manière de voir“, Nr. 58, Juli/August 2001, 15 DM

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