GEN-Versuche

Die Freisetzung genetischer Begrifflichkeiten

von GABRIELE GOETTLE

Silja Samerski, Dr. phil., geb. 25. 2. 1970 i. Stuttgart. Abitur 1989 i. Neckarsulm. 1989–1996 Studium d. Biologie u. Philosophie (Schwerpunkt Humangenetik) a. d. Universität Tübingen. Mitbegründerin d. „Arbeitskreises Gentechnologie“, Mitinitiatorin d. interdisziplin. Veranst. „Lebens-Bilder – Lebens-Lügen: Leben und Sterben im Zeitalter der Biomedizin“ (wurde i. Programm d. „Studium Generale“ d. Uni Tüb. aufgenommen). Seit 1994 beobachtende Teilnahme a. genetischen Beratungssitzungen u. Analyse d. Gesprächsprotokolle. Beschäftigung m. Empirischer Kulturwissenschaft u. d. Charakteristika d. biolog. u. med. Fachsprache i. Verhältnis z. Alltagssprache (i. Seminaren v. Prof. Illich a. d. Uni Bremen, WS 95/96). 1996 Abschluss a. d. Univ. Tübingen m. summa cum laude (Diplom i. Biologie. „Ribosomale und mitochondriale DNA-Marker zur Differenzierung von Microcebus-Arten“). Anschließ. Studienaufenthalt a. d. Pennsylvania State University (USA), Befassung, i. Rahmen des STS-Programs (science, technology and society), mit d. Geschichte des statistischen Denkens. Kontakte z. div. Wissenschaftlerinnen u. Wissenschaftlern, z. Stand d. genetischen Beratung, z. Gesundheitspolitik u. ä. 1997 Immatrikulation a. d. Univ. Bremen (Kulturwissenschaft u. Philosophie). 2001 Promotion z. Dr. phil. m. summa cum laude („Eine Untersuchung über die Popularisierung eines neuen Entscheidungsbegriffes in professionellen Beratungsgesprächen, dargestellt am Beispiel der genetischen Beratung“). Publikationen u. a. „Schwanger gehen mit dem Risiko? Professionelle Verratlosung in der genetischen Beratung“. In: Psychomed 11 (2). Seit 1995 Vorträge üb. Pränataldiagnostik u. genet. Beratung.

Es vergeht kaum ein Tag, ohne das Erscheinen neuer Heils- und Horrormeldungen mit dem Verbindungswörtchen GEN. Das autoritäre Auftreten der neuen Expertenelite und die Überschwemmung der Öffentlichkeit mit einem bedeutungsschwanger klingenden, unüberprüfbaren Wissenschaftsjargon führt wunschgemäß zur Übertölpelung. Die meisten Bürger Mitteleuropas und Nordamerikas glauben inzwischen fest daran, etwas Substantielles in sich zu tragen, das GEN genannt wird. Es gibt, so offenbarte die Wissenschaft, für alles ein GEN, für mangelhafte Intelligenz ebenso wie für Homosexualität, Kurzfingrigkeit, Brustkrebsrisiko oder starke Behaarung. Diesen „linear auf den Chromosomen“ angeordneten lauernden Schicksalsschlägen versprechen die Bioingenieure ein Ende zu bereiten und locken mit hemmungslosen Heilsversprechen. Zu deren Verwirklichung allerdings benötigen sie einen gesetzlich geregelten Zugang zur Instrumentalisierung des menschlichen Lebens, also zu Gunsten des menschlichen Lebens. Wer die dazu als notwendig erachtete Forschung beschränkt, beschränkt die Heilung der notleidenden Kranken. Eine weitere, sehr beliebte Erpressung arbeitet mit dem Argument des Zeitdrucks, den die internationale Forscheraktivität vorgibt. Tatenlos und gelähmt durch überholte Gesetze, müssen Pharmaindustrie und Wissenschaftler zusehen, wie das Ausland den Wettlauf um Märkte und Produkte, um Forschungsgelder, Forschungsergebnisse, Patente, Karrieren und Auszeichnungen gewinnt. Derweil werden, umgeben von der Aura des Wissens, Fetische und Ikonen aufgestellt.

„Therapeutisches Klonen“ ist das aktuellste Beispiel. Die „genetische Ausstattung“, wird suggeriert, sei fortan kein hinzunehmendes Schicksal mehr, sondern optimierbar und reparabel. Es ist viel von der Freiheit die Rede, von der Freiheit der Wissenschaft, aber auch verdächtig viel von der Freiheit der „Kranken“ und: „. . . insbesondere der von Müttern, sich, wenn Präimplantations- oder Pränataldiagnostik schwere Entwicklungsstörungen einer Leibesfrucht erwarten lässt, nach ärztlicher Beratung für oder gegen deren Austragung zu entscheiden“. Denn, so der rhetorische Trickbetrug: „Mich schreckt am meisten der Geist erbarmungsloser Moral und zugleich des rechtlichen Zwanges auf betroffene Einzelne im Dienste vermeintlicher Gemeinschaftsinteressen. So als gehörten eine Frau und ihr Reproduktionsverhalten und sogar die dabei instrumentalisierten Behinderten zuallererst einmal dem Staat, der dieser Frau in von Mehrheitsmeinungen abhängigen Grenzen Freiheiten hinsichtlich ihres ureigensten Menschenrechts, nämlich der Entscheidung über die eigene Fortpflanzung, einräumt oder versagt, und sie gegebenenfalls dazu zwingt, ein schwerstbehindertes Kind sozusagen als Exempel für andere auszutragen und aufzuziehen.“ (Hubert Markl, Biologe u. Präsident d. Max-Planck-Gesellschaft, auf d. Hauptversammlung i. Juni 2001)

Dieser „schwerstbehinderte“ Satz wird durch die Verschleierung seiner Absichten derart langsam, dass man in Zeitlupe sehen kann, wohin der Hase läuft. Hinter dem betulichen Anschein friedlicher Nutzung der Gentechnologie steckt der altbekannte Vulgärdarwinismus, die Fantasien von Zucht und Züchtung, Auslese und Ausmerze, der Selektions- und gentechnologische Reproduktionswahn der Wissenschaftler, neu bemäntelt mit der Verheißung, Pflanze, Vieh und Mensch schadensresistent und kompatibel zu machen. „Der aus dem genetischen Naturzwang entlassene Mensch“ (siehe oben) wird von den Kolporteuren marktschreierisch angepriesen. Dass es sich dabei vielleicht um einen der größten Bluffs in der Wissenschaftsgeschichte handeln könnte, wird von denselben Kolporteuren geschickt kaschiert durchs An-die-Wand-Malen der schrecklichen Gefahren und weit reichenden Veränderungen mittels mächtiger Instrumente der Gentechnologie. Was sich aber wirklich vollzieht, derweil sich aller Augen auf das gemalte Gespenst richten, ist die stückweise Entwindung und Übernahme des „entlassenen“ Körpers zum Zwecke seiner Verwandlung in ein Handelsobjekt auf den internationalen Märkten.

Verständlicherweise finden sich in diesem Wissenschaftsgebiet – noch weniger als in allen anderen – kaum Kritiker des eigenen Faches. Schon gar nicht, wenn sie ihre Karriere noch vor sich haben. Deshalb waren wir sehr erfreut über die Bekanntschaft mit Frau Dr. Samerski, die wir beim 5. Internationalen Russel Tribunal kennen lernten, wo sie auf dem Symposium (zur Bioethik und den Folgen der Biotechnologie) einen Vortrag hielt über das Eindringen der medizinisch-biologischen Fachsprache in die Alltagssprache und dessen Folgen.

Ein anschauliches Beispiel dafür fanden wir bereits auf den Landstraßen nach Bremen. Große CDU-Wahlplakate warben mit zwei lachenden Kindern und folgendem Text: „Die Zukunft liegt nicht nur in den Genen. Sondern in unseren Herzen.“ Beachtlich ist auch das miserable Deutsch. Wir sind auf dem Wege zu Frau Dr. Samerski, an einem heißen Tag im August. Unser Auto lassen wir an der Universität zurück, die am östlichen Stadtrand von Bremen liegt, erfrischen uns ein Stündlein im Universitätssee und fahren dann mit der Straßenbahn ins Zentrum. Silja Samerski öffnet die Tür und begrüßt uns freundlich, umschwebt vom Duft eines gerade gebackenen Kuchens. Zusammen mit ihrem Freund, er ist Musiker, bewohnt sie eine kleine Neubauwohnung. Wir nehmen Platz auf Futons, die um ein niedriges Tischchen herum auf dem Boden liegen. An der Wand hängt ein Saiteninstrument und ein Wandteppich, es gibt ein Vitrinenschränkchen und ansonsten ist die Möblierung spärlich und funktional. Auf dem Balkon wächst ein kleiner Dschungel aus Pflanzen, Blumen und Kräutern, die Tür steht offen, vom Innenhof her hört man Amseln singen.

„Ich habe eine ganze Weile nachgedacht, darüber gegrübelt, wie es sich außerhalb des Labors über das ‚GEN‘ reden lässt, ohne dem populistischen Gen-Gerede auf den Leim zu gehen. Das ist ja wirklich spannend, dass es jetzt sogar auf den Wahlplakaten auftaucht, man kann bereits an etwas Verinnerlichtes appellieren. Ja . . . die Leute lesen es heute sogar im Feuilleton oder diskutieren am Stammtisch darüber, ob adulte Stammzellenforschung besser ist als embryonale. Und der Bundeskanzler hat an die Zeit einen Leserbrief geschrieben, in dem er fragt, wie wir das bewerten, wenn durch die Spirale befruchtete Eizellen abgehen. Man glaubt, man ist im Irrenhaus??! Ich weiß es nicht . . . es ist doch absurd, dass sich der Bundeskanzler um Eizellen sorgt, so, als müsse man sich darüber ernsthafte Gedanken machen als Politiker. Das ist etwas Neues, denn bisher hatte sich ein Politiker um die Belange und die Bürger des Landes zu kümmern – um die Geldströme, um Ökonomie, aber nicht um die Eizellen verhütender Frauen. Das ist ein Frauenthema und keine Frage für einen Bundeskanzler. Aber gemeint ist natürlich etwas anderes. Und so ist es mit dem gesamten Gen-Gerede, es läuft ins Leere. Es geht hier um Begrifflichkeiten, die aus dem Labor kommen, die sich in der Alltagssprache populärwissenschaftlich eingenistet haben und nun zum Weltbild des modernen, gebildeten Menschen gehören. Ihre wissenschaftliche Bedeutung kann der populärwissenschaftlich gebildete Dilettant nicht nachvollziehen, an ihre Bedeutsamkeit kann er nur glauben. Und auf diese Art und Weise kommt es zu Denkzwängen, zur Veränderung der Wahrnehmung.

Auch der Wissenschaftler selbst geht sich sozusagen auf den eigenen Leim. Bereits die mehrjährige Einweihung ins genetische Denken während des Studiums stellt ganz spezifische Denkgewohnheiten her. Gepaukt wird ein widerspruchsfreies System aus wissenschaftlichen Tatsachen, so wie sie im Lehrbuch stehen. Wenn die Denkgewohnheiten dann nach mehrjähriger Einübung gefestigt sind, darf ich mich in den Dschungel der Fachzeitschriften vortasten. Und das ist dann zugleich die Einführung in die Kunst, nur solche Fragen zu stellen, die sich an das erlernte Denksystem anschließen, und für deren Beantwortung Drittmittel beantragt werden können. Ich stand monatelang im Labor. Ich weiß, wovon Genetiker nicht sprechen. Ich weiß, wie mühsam Forschungsergebnisse im Labor hergestellt werden, wie sehr diese Ergebnisse bereits schon durch den Aufbau des Experiments vorwegnehmbar sind, wie strittig die allermeisten Resultate bleiben und auch wie anstandslos dann bei der Auswertung ‚gerade‘gebogen wird. Beobachtungen im Labor sind noch lange keine wissenschaftlichen Tatsachen, ebensowenig ihre Bezeichnungen.

So, wie es in den Lehrbüchern und populärwissenschaftlichen Abhandlungen steht, gibt es ‚GENE‘ nicht. ‚GEN‘ bezieht sich nämlich auf keine nachweisbare Tatsache, es gibt keine einheitliche Definition des Begriffs. Wenn Genetiker von ‚GENEN‘ sprechen, so bezeichnet das etwas ganz Unterschiedliches, Populations-Biologen benutzen den Terminus anders als Molekulargenetiker oder klinische Genetiker. ‚GEN‘ ist nichts anderes als ein Konstrukt für die leichtere Organisation von Daten, es ist nicht mehr als ein X in einem Algorithmus, einem Kalkül. Aber außerhalb des Labors wird es dann zu einem Etwas, zu einem scheinbaren Ding mit einer wichtigen Bedeutung, mit Information für die Zukunft . . . über das sich anschaulich und umgangssprachlich reden lässt. Es ist doch sehr fraglich, ob man umgangssprachlich über Variablen von . . . oder Bestandteile einese Kalküls oder Algorithmus sprechen kann, ob sich also überhaupt außerhalb des Labors sinnvolle Sätze über ‚GENE‘ bilden lassen, die von irgendeiner Bedeutung sind. Wenn aber solche Konstrukte in der Umgangssprache auftauchen und plötzlich zu Subjekten von Sätzen werden, mit Verben verknüpft werden, dann werden sie sozusagen in einer gewissen Weise wirklich. Dadurch dass ‚GENE‘ immer was tun, nehmen sie Gestalt an – hieße es X, wäre es ganz klar, X kann nichts tun – ‚GENE‘ liegen auf den Chromosomen, sind Bausteine des Organismus, Vererbungseinheit und Träger von „Informationen“, wird behauptet, aber das sind alles lediglich Zuschreibungen. Man hat mir auch manchmal entgegengehalten, es sei eben abstrakt. Aber ein Abstraktum geht ja immer vom Konkreten aus, das ist beim ‚GEN‘ nicht der Fall, da gibt’s nichts Konkretes. Auch der Vergleich mit dem Atom ist unzulässig – man hat diese vielfach beschworenen ‚Atomen der Biologie‘ nicht gefunden – der Atombegriff ist formalisierbar, der Genbegriff war ja nie formalisierbar, war nie einheitlich definiert. Und heute glaubt man gar nicht mehr daran, dass er irgendwann mal definiert werden kann.“ Silja Samerskis Blick richtet sich auf unsere Tassen, sie erhebt sich vom Boden, wo sie die ganze Zeit über auf ihren Fersen gesessen hat, schenkt uns Tee ein und fragt: „Mögt ihr noch Kuchen, oder vielleicht etwas Saft?“

Zwischen den wohlschmeckenden Bissen fragen wir Frau Dr. Samerski nach ihrer Einschätzung des GENOM-Projektes. Sie lässt sich auf ihre Fersen nieder, lächelt ein wenig und sagt: „Ich habe vergeblich versucht herauszubekommen, was meinen die Wissenschaftler, wasmeint die Bio-Tech-Firma, wenn verkündet wird, 30.000 ‚GENE‘ hat der Mensch . . . Wie kommen sie auf diese Aussage? Was wurde sequenziert? Das WIE ist bekannt. Den Hauptanteil der Arbeit erledigen Rechner, Informatiker, Roboter und Techniker, die das Tempo der ‚GEN‘-Sequenzierung Aufsehen erregend beschleunigt haben. Was sich dabei angesammelt hat, ist eine enorme, durch den Computer gejagte Datenmasse, deren ‚Geheimnis‘ so wird gesagt, nun ‚entschlüsselt‘ werden müsse. Das ganze Projekt erinnert doch mehr an die Kalkulationen von Börsenspekulanten über die Chancen und Risiken von Finanzderivaten, also von Optionen, mit denen an der Börse gehandelt wird, ohne dass ihnen noch ein konkreter, existierender Wert zugrunde liegen muss. Und man muss wissen, dass das Ziel dieser gigantischen Verwaltung von Daten die Simulation und Modellierung von Proteinen, der Proteinentstehung, der ‚Genomorganisation‘ usw. ist, aber nicht deren Analyse. Ich weiß auch gar nicht, ob man dazu noch Wissenschaft sagen kann, es ist eher ein undurchschaubares Konglomerat aus Technologie, Wissenschaft und auch Industrie, wo’s eigentlich nicht so drauf ankommt, ob man ‚GEN‘ definieren kann oder nicht. Irgendwann gab es doch mal so was . . .“ Sie denkt lange nach, ungewohnt lange, und fährt dann zögernd fort: „. . . wie Wahrheit . . . ich glaube, es gibt auch die alte Vorstellung von Objektivität gar nicht mehr, also dass Wissenschaft verifizierbare und reproduzierbare Aussagen über Phänomene macht. Aber heute kommt es primär darauf an, dass es funktioniert. Es gibt dafür ein schönes Beispiel. Richard Strohman, ein Molekulargenetiker, hat vor längerer Zeit in Nature Biotechnology einen Artikel geschrieben über all die Fehlannahmen der Genetik, über den Genkult und genetischen Determinismus. Zu diesem Artikel kam ein langer, ausführlicher Leserbrief von einem Herrn Bains, Engländer, Berater für Biotechnologie-Unternehmen. Er schreibt u. a.: Die meisten Anstrengungen in der Forschung und in der biotechnologischen industriellen Entwicklung basieren auf der Idee, dass Gene die Grundlage des Lebens sind, dass die Doppelhelix die Ikone unseres Wissens ist und ein Gewinn für unser Zeitalter. Ein Gen, ein Enzym, ist zum Slogan der Industrie geworden. Und er fragt: Kann das alles so falsch sein? Ich glaube schon, aber ich bin sicher, das macht nichts. Denn die Hauptsache ist, dass es funktioniert: Manchmal funktioniert es, aber aus den falschen Gründen, manchmal wird es mehr Schaden anrichten als Gutes tun . . . Aber die beobachtbare Wirkung ist unbestreitbar. Dann sagt er: Wir müssen nicht das Wesen der Erkenntnis verstehen, um die Werkzeuge zu erkennen . . . Der Leserbrief endet mit dem schönen Satz: Und inzwischen führen die Genom-Datenbanken, die geklonten Proteine und anderes Zubehör der funktionalen Genetik zu Werkzeugen, Produkten, Einsichten, Karrieren und Optionen an der Börse für uns alle.

Silja Samerski lächelt ein wenig, rückt ihre Brille zurecht und sagt: „Das ‚GEN‘ lässt sich vor jeden Karren spannen, und gerade dadurch erscheint es in der Öffentlichkeit unentwegt, das ist das Problem. Ich denke, viele Leute wären überrascht zu erfahren, dass ein ‚GEN‘ nie entdeckt wurde, in keinem einzigen Labor der Welt. Vielleicht trägt es ein wenig zur Entmystifizierung bei, wenn ich ein bisschen von der Begriffsgeschichte, also von der Entstehungsgeschichte, von den Vorstellungen und Hypothesen über ‚GEN‘ erzähle: Also die Vererbungswissenschaft entstand zum Ende des 19. Jahrhunderts, Francis Galton, ein Vetter Darwins, gilt als ihr Begründer, er hat 1883 den Begriff ‚Eugenik‘ geprägt, die Wissenschaft von der Verbesserung der Menschheit durch Zucht. Vererbungsforschung war von Anfang an mit der Idee und Vorstellung verknüpft, hier wissenschaftliche Grundlagen für eine neue Gesellschaftsordnung zu schaffen. Und sie war von Anfang an verknüpft mit der Errechnung mathematischer Gesetzmäßigkeiten – Galton war ein unermüdlicher Meister im Messen, Zählen und der Korrelation . . . die moderne Statistik verdankt ihm eine ihrer grundlegendsten Techniken, die Methode der statistischen Assoziation . . . aber das führt jetzt zu weit abseits, ist aber für den Zusammenhang natürlich interessant. Alfred Plötz hat dann 1895 den deutschen Begriff ‚Rassehygiene‘ geprägt, den wir alle aus schrecklichen Zusammenhängen kennen. Als im Jahr 1900 Mendels Abhandlung wiederentdeckt wurde, vermuteten viele Vererbungsforscher, dass es sich bei Mendels ‚Anlagen‘ (oder Vererbungsfaktoren) um die gesuchten korpuskulären Einheiten – also die kleinsten Teilchen – handelt. Die durch Mendel eröffnete Möglichkeit, gezielte vererbungswissenschaftliche Experimente zu machen, eröffnete ganz neue Visionen der Manipulation und Kontrolle über das Lebendige. Auch der dänische Vererbungsforscher Wilhelm Johannsen hat Pflanzen gekreuzt und die Versuche statistisch ausgewertet, und seine Begriffe ‚Phänotyp‘ und ‚Genotyp‘, das waren auch statistische Begriffe.“

Elisabeth bemerkt, dass diese Begriffe sogar von Gottfried Benn in seine Lyrik eingearbeitet wurden. Silja Samerski lächelt überrascht und sagt: „Ja, die Begriffe waren ziemlich neu damals . . . der Herr Johannsen hat auch das Kunstwort ‚GEN‘ geprägt, 1909, er wollte damit die Diskussion über die materielle Existenz merkmalbestimmender Einheiten und ‚Erbanlagen‘ versachlichen, hat sogar davor gewarnt, sich vorzustellen, dass einem ‚GEN‘ eine jeweilige Einzeleigenschaft oder ein Merkmal entspricht, diese Auffassung nannte er naiv und empfahl, sie als ganz und gar irrig – so sagte er – aufzugeben. Aber das hat die englischsprachigen Vererbungsforscher nicht daran gehindert, hypothetische merkmalbestimmende Einheiten mit dem Wort ‚GEN‘ zu bezeichnen und einen alles umfassenden Erklärungswert zuzuschreiben. Immer mehr medizinische und soziale Klassifizierungen, vom ‚Schwachsinn‘ bis zur ‚Asozialität‘, wurden auf ‚GENE‘ zurückgeführt. In Deutschland wurde weiterhin, bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg, der Begriff ‚Erbanlage‘ bevorzugt.

Das faschistische Deutschland hatte übrigens durchaus Anschluss an die internationale genetische Forschung, die entsprechenden Kaiser-Wilhelm-Institute wurden sogar von Amerika finanziell unterstützt, teilweise bis zum Kriegseintritt. Genau genommen war es aber, glaube ich, so, dass die deutsche Genetik schon vor dem Faschismus eine Richtung eingeschlagen hatte, die sich international nicht durchsetzen konnte, die vielfach als ‚veraltet‘ abgelehnt wurde. Den deutschen Vererbungswissenschaftlern waren die amerikanischen Forschungen, z. B. Morgans Chromosomentheorie der Vererbung, zu reduktionistisch, zu sehr auf den Zellkern fixiert, man wollte den Zusammenhang zum Organismus nicht derart aus den Augen verlieren. Durchgesetzt haben sich dann die Rassehygeniker mit ihren ‚Erbbiologischen Bestandsaufnahmen‘ und den mörderischen Folgemaßnahmen. Deutschland hat als erstes Land theoretische Laborkonstrukte und Lehrmeinungen auf Menschen angewandt. Und das gehört mit hinein in die Geschichte der Genetik, die ja der flüchtige Betrachter für eine Nachkriegsgeschichte hält.

Die folgenden 50 bis 60 Jahre sind in der Wahrnehmung ja eher präsent, es gab eine Reihe spektakulärer Fortschritte, aber ‚GEN‘ als wissenschaftliche Tatsache zu etablieren gelang nicht. Was passierte, war die Verschleierung der Leere durch Kennzeichnung. Noch bevor die DNA als Vererbungssatz galt, führte E. Schroedinger, ein Physiker, 1944 den Begriff des ‚Codes‘ in die Biologie ein, mit Hilfe der Quantenphysik sollte Aufbau und Funktion des ‚GENS‘ gefunden werden. Nachdem 1953 Watson und Crick mit ihrem Modell der Doppelhelix berühmt geworden waren, das einen Code in der Abfolge der Basen nahe legt, arbeiteten Militär und Biochemie fieberhaft daran – so, wie den sowjetischen Code – den ‚genetischen Code‘ zu knacken. Eine Nebenbemerkung zum Militär: Die Erforschung genetischer Wirkungen war ja von Anfang an Teil der Atomwaffenforschung, es gab ein genetisches Forschungsprogramm an den Atombombenopfern, und die Atomenergie-Kommission der USA war bis Anfang der 70er-Jahre der Hauptgeldgeber für die Humangenetik. Sie vergab auch Doktorandenstipendien, Watson arbeitete mit Hilfe eines solchen Stipendiums. Ironischerweise war’s dann in der weiteren Geschichte der Molekularbiologie so, dass, als man die DNA endlich direkt untersuchen konnte, deutlich wurde, das Konzept ‚GEN‘ lässt sich nicht halten, ist nur tauglich als Hilfsmittel zur Organisation von Daten. Inzwischen war aber der Begriff des Codes und der hinzugekommene Begriff der Information nicht mehr wegzudenken. Wenn nun die DNA als ‚Code‘, als verschlüsselter Text bezeichnet wird, der ‚Information‘ enthalte, dann suggeriert das Inhalt, Bedeutung, Mitteilung. In der Informationstheorie aber ist ‚Information‘ eine rein quantitative Größe und daher bedeutungslos. Die eingängige Rede vom ‚genetischen Text‘ oder von der ‚genetischen Information‘ täuscht vor, Genetiker könnten anhand einer DNA-Sequenz irgendwelche Aussagen über deren Auswirkungen machen. Inzwischen wird allerdings – mehr intern – eingeräumt, dass sich bei Vielzellern in der Regel nicht einmal vorhersagen lässt, welches Eiweiß auf der Grundlage dieser DNA-Sequenz synthetisiert wird, geschweige denn, wie sich eine Mutation, eine Veränderung, im Organismus auswirken wird. Ich entschuldige mich für die Verwendung der Fachsprache, manchmal geht es nicht anders.

Man muss sich also vergegenwärtigen, dass die Freisetzung genetischer Begrifflichkeiten, all das öffentliche Reden über ‚GENE‘, nichts mit wissenschaftlichen Tatsachen zu tun hat. Es schafft jedoch neue Denkformen, die scheinbar mit Biologie zu tun haben, viel mehr aber mit statistischen und kybernetischen Konzepten wie ‚Risiko‘, ‚Entscheidung‘, ‚Information‘ oder auch ‚Wahrscheinlichkeit‘, denen alltagssprachliche Bedeutung zugeordnet wird. Eine sehr gute Linse zur Betrachtung dessen, was passiert, ist die genetische Beratung, die in Deutschland seit Beginn der 70er-Jahre Bestandteil der medizinischen Schwangerschaftsvorsorge ist. In der genetischen Beratung wird nicht beraten, sondern ‚Entscheidungshilfe‘ angeboten, die Frau darf dann in vollkommen ‚freier Entscheidung‘ über das ihr mitgeteilte Risiko befinden. Das ‚Risiko‘ ist Ergebnis einer Wahrscheinlichkeitskalkulation, wird aber als ‚persönliches Risiko‘ bezeichnet. Es beträgt, sagen wir im Falle von Frau X, altersbedingt 1,5% für ein Kind mit Down-Syndrom. Fragt die Frau nun, ob sie das hoch oder niedrig finden soll, so sagt ihr der Genetiker, das läge einzig und allein in ihrer eigenen freien Entscheidung. Dass diese Zahl gar nichts über Frau X und ihr kommendes Kind, sein ‚Risiko‘ und seinen Gesundheitszustand aussagt, gerät aus dem Blickfeld der Betroffenen. Aber ein ‚persönliches Risiko‘ gibt es nicht in diesem Zusammenhang. 1,5% sind nicht etwas an sich ‚Hohes‘ oder ‚Niedriges‘, es sind statistische Wahrscheinlichkeiten, und die beziehen sich per definitionem auf das Eintreten von Ereignissen in Grundgesamtheiten – heißt das – in statistischen Populationen. Es hat nichts mit Frau X zu tun, dennoch soll sie Entscheidungen treffen auf dieser Grundlage. Und schuld an der Geburt eines nicht normgerechten Kindes ist Frau X dann selbst, wenn sie sich zwischen den zur Verfügung gestellten Optionen nicht entschieden oder nicht richtig entschieden hat. Das ist die neue Form freiheitlicher Selbstbestimmung. Es wird immer weniger darum gehen, Menschen in eine bestimmte Richtung zu steuern, sondern vielmehr dafür zu sorgen, dass sie sich auf eine neue Art und Weise selbst sehen, mit einer Art Verwaltungsblick, mit Sinn fürs Selbstmanagement. Das ist auch billiger, wenn die Leute alles selber machen, bis hin zur Selektion auf Grund eines errechneten Risikos.

Und dieses ganze Gerede über ‚GENE‘ ist meiner Meinung nach eine Einstimmung auf dieses Selbstmanagement, ins Management des Biologischen angeblich. Der Mensch, wird gesagt, nimmt jetzt seine Evolution selbst in die Hand, es wird gesagt, dass der Mensch sich neu definieren müsse usf. Aber ich glaube, was neu ist, ist nicht, dass er sich neu definieren muss, sondern das er sich überhaupt definieren muss. Menschen haben sich bisher nie definieren müssen in diesem beschriebenen Sinne. Heute ist es eine Frage der Definition . . . ab wann ist er ein Menschen? Wann ist der Mensch tot? Das sind alles Definitionsfragen. Früher war es evident, dass ein Mensch tot ist, wenn das Herz aufhört zu schlagen. Heute ist es eine Frage der Messung, der Definition, über die Experten sich streiten können. Und früher war Menschwerdung der Moment der Geburt. Und es ist auch eine Definitionsfrage, ob irgendwas eine Person sein kann, was nur unter dem Mikroskop sichtbar ist. Das ist heute alles eine Frage von Definition. Definitionen können sich jederzeit ändern, und das tun sie auch. Es ist eigentlich erschreckend, mit welcher Selbstverständlichkeit biologische Konzepte auch unsere Alltagswahrnehmung bereits durchdrungen haben und unseren Umgang miteinander bestimmen.“