: Ein Kind aus der ß-Klasse
„ß kann ich viel schneller schreiben als ss“, sagt die Tochter. In ihrem Schulheft steht: „Laßt mich in Ruhe“. Dazu hat der Deutschlehrer bisher nichts gesagt
aus Elsfleth ASTRID GEISLER
Josephine schließt die Zimmertür und das Gaubenfenster, damit die Eltern unten im Garten nicht alles hören. Sie legt sich aufs Bett, streckt die nackten Füße gegen die Dachschräge und erzählt vom 20. Juni, dem Tag der Entscheidung.
Eigentlich war ihr Fall aussichtslos, doch die Eltern blieben guter Dinge. Sie spendierten ein Eis, noch in der letzten Pause vor dem Urteilsspruch. Würde das Oberverwaltungsgericht für ihre Tochter die Rechtschreibregeln kippen? Keine Chance, dachte Josephine damals. Das sagt sie heute. Sie hielt den Mund und leckte ihr Eis.
Josephine ist zwölf und redet gern über Pferde, Britney Spears, ihre Freundinnen, Jungs. Wenn es sein muss, auch über Rechtschreibung. Vier Jahre prozessierten ihre Eltern gegen das niedersächsische Kultusministerium, von Instanz zu Instanz. Damit die Tochter in der Schule weiter „Fluß“ und „Delphin“ lernte statt „Fluss“ und „Delfin“, als letztes Kind in Deutschland, im Sonderunterricht. Vergeblich: Klage AZ 13 L 2463/98 wurde abgewiesen, eine Revision ist ausgeschlossen. Josephine wird sich endlich an die neuen Regeln halten, hofft die Schulbehörde.
„Wir sehen das ganz gelassen“, sagt Gabriele Ahrens. Sie erwartet, dass ihre Tochter auch am Gymnasium schreibt wie bisher. „Spätestens 2005 ist die Reform sowieso rückgängig gemacht.“
Gabriele Ahrens hasst die Unterstellung, der Prozess könnte ihre Tochter zur Außenseiterin gemacht haben. Isoliert ist, wer die neuen Regeln benutzt, sagt sie. Auf dem abgeschiedenen Anwesen sieben Kilometer außerhalb von Elsfleth im Oldenburgischen hortet die Familie dafür zahlreiche Beweise. Josephines Vater weist auf einen Nebenflügel des historischen Gehöfts. Roter Backstein, spitzer Giebel, schmale Fenster. Hunderttausende unterschriebener Zettel vergilben dort. Protestschreiben gegen den „Neuschrieb“. Der Graf von Oldenburg ist dabei, Graf Lambsdorff auch. Wochenlang hat das Ehepaar Ahrens kistenweise Post nach Hause gefahren, Briefe aufgeschlitzt, gezählt. Ihr Volksbegehren scheiterte trotzdem. „Wir können das doch nicht einfach wegwerfen. Geschweige denn verbrennen!“ Vielleicht stellt das Horst-Janssen-Museum einen riesigen gläsernen Würfel mit den Karten auf, hofft Carsten Ahrens. Einen, den die Besucher drehen können, damit die Dimensionen des Widerstands klar bleiben. Seine Frau sagt: „Wir hatten auch an Einmauern im Garten gedacht.“
Was wollen Sie noch hier?
Wörterlisten, Regeltafeln, Broschüren und Bücher hat Josephines Mutter auf dem Terrassentisch gestapelt. Ein Verteidigungswall aus Argumenten. Jedes soll beweisen, dass sie und ihr Mann zu Recht fochten, selbst nachdem Karlsruhe längst über die Schreibreform geurteilt hatte, als der Verwaltungsrichter in Lüneburg fragte: Was wollen Sie noch hier?
Carsten Ahrens lehrt als Physikprofessor in Oldenburg, ist Hobby-Seemann und sieht auch so aus: weißblondes Haar, heller Bart, blaue Augen, gestreiftes Hemd. „Wenn der Staat erst einmal eingreift in die Sprachgewalt“, sagt der Wissenschaftler, „dann kann er sehr schnell andere Dinge machen.“ Dagegen hätten er und seine Frau aufbegehrt. Für die Tochter, aus Prinzip. „Wir haben Josephine gesagt: Du darfst weiter so schreiben wie bisher“, berichtet Frau Ahrens. „Das fand sie gut.“ Von „alter“ Rechtschreibung sprechen Carsten Ahrens und seine Frau bis heute nicht. Sie verteidigen die herkömmliche, die bewährte.
„Heeer-kömm-lich“, sagt Josephine. „Komisches Wort.“ Ein hochgeschossenes Mädchen, mit Ponyhaarschnitt und Locken so lang wie der Rücken. Hunderte Briefe hat sie als Achtjährige aufgeschlitzt, für das Volksbegehren gegen die Reform-Orthografie. Hat Mama und Papa fotografiert, wie sie mit Rotwein auf einen Zeitungsartikel anstoßen: „Rückschlag für die Schreibreform“. Das Fernsehen kam, sie traten auf: drei Stunden warten, zwei Minuten Scheinwerferlicht, die Mutter redete, sie war das Kind. „Am Anfang“, sagt Josephine, „war es schon ganz schön, im Mittelpunkt zu stehen.“
Die Grundschullehrerin Monika Wenzel spricht ungern darüber. Alle Journalisten hat sie abgewiesen, hat vor der Klasse kein Wort über die Klage verloren. Sonderbedingungen für Josephine verlangte das Gericht – also Unterricht nach den alten Regeln. Die Kinder raushalten, das wollte sie. „Es reichte doch“, sagt Frau Wenzel schüchtern, „wenn ich Josephine abweichende Regeln mal leise ins Ohr sagte.“
Den Mitschülern war die Rechtschreibung gleichgültig, erzählt Josephine. Sie fanden nur das erste Foto spannend, das von ihr in den Zeitungen erschien: Hast du eine Zahnspange? Das Bild war zum Zeitpunkt des Erscheinens zwei Jahre alt, Josephine hatte längst gerade Zähne. „Ich bin schon stolz, dass meine Eltern die Klage gemacht haben“, sagt Josephine. Und offensichtlich trotzdem heute froh, dass kaum ein Mitschüler noch davon weiß. Gabriele Ahrens blickt von der Terrasse ihres Fachwerkgehöftes ins Grün. „Eine Zeit lang“, erzählt sie, „hatten wir keinen Garten mehr. Wir hatten nur noch Unkraut.“ Heute sind die Rabatten gepflegt, der Rasen ist kurz. Ihr Mann hat den Schafen einen Verschlag gezimmert, die Meerschweinchen bewohnen ein neues Holzhaus. An einem Wasserlauf tapsen vier indische Laufenten. Gerhard und Doris heißen die beiden weißen. Das schwarze Pärchen benannte die Familie vor ein paar Wochen aus Pietät um. Helmut und Hannelore tragen jetzt die Namen Joschka und Nicola. Säugern, Nagern, Reptilien widmen die Ahrens jetzt ihre Freizeit. Und neuen Freunden, Gleichgesinnten aus der Protestbewegung. Zum Beispiel Professor Theodor Ickler, Autor eines Gegen-Dudens. Die Familien besuchen sich regelmäßig, der Germanist macht Mut: Ihr seid auf der sicheren Seite, auch wenn juristisch nichts zu machen ist. Der „Keim des Verfalls“ liegt in dem Reformwerk.
„Da ist Ruhe eingekehrt“, sagt Sonja Markgraf, Referentin im Kultusministerium. Behutsam soll der Gymnasiallehrer Josephine an die neuen Regeln gewöhnen. Markgraf war selbst bei einer Gerichtsverhandlung. „Das Kind ist wohl sehr intelligent“, meint sie, die Umstellung deshalb kein Problem: „Sie kann doch sowieso beides.“
„Sieht halt doof aus“
Josephine bestreitet das nicht. Warum schreibt sie dann nicht wie alle anderen? Die Zwölfjährige schweigt, sucht nach Worten für etwas, das immer selbstverständlich war: „Sieht halt doof aus“, sagt sie. „ß kann ich viel schneller schreiben als ss!“ Auf dem Schreibtisch, neben Yam-Heftchen und Kinderbüchern in neuer Orthografie, liegt das Deutschheft, Josephine Ahrens, 7a. In sauberer Tintenschrift hat sie die ersten Seiten gefüllt: „Gut, daß sie nicht so viele Fragen gestellt hat“, steht da. Und: „Laßt mich in Ruhe.“ Bis jetzt hat der Deutschlehrer nichts dazu gesagt. Vier Jahre noch dürfen Lehrer die alten Schreibweisen nicht als falsch werten.
Josephine kommt dann in die elfte Klasse. Sie ist ehrgeizig, will Tiermedizin studieren, braucht gute Noten. „Gravierende schulische Nachteile“ seien für das Mädchen nicht zu erwarten, urteilten die Lüneburger Richter. Josephine ist sich da nicht so sicher. Das Fenster zum Garten ist noch zu. Josephine sagt nicht Nein und nicht Ja. Vielleicht müssen die Eltern eines Tages alleine weitermachen, ohne sie. „Ist doch doof: Die ganze Welt schreibt nach neuen Regeln, und du hinkst hinterher.“
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