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Wo Schüler Apartheid verlernen

Anfangs wollte ein weißer Junge nicht aus demselben Wasserhahn wie die schwarzen Kinder trinken. „Da habe ich es vorgemacht“, sagt der Direktor.

aus Centurion MARTINA SCHWIKOWSKI (Text) und HENNER FRANKENFELD (Fotos)

Mit einem Affenzahn rast Mahlogonolo um die blauen Stahlpfeiler der betonierten Pausenhalle, vorbei an seinen Sandwich kauenden Schulkameraden, und hängt sich mit einer Horde Kinder an die dicken Autoreifen des hölzernen Klettergerüsts. Sein Freund Marcello japst hinterher, doch Mahlogonolo sitzt schon wieder auf dem nächsten Vollgummi, das an Ketten durch die warme Luft schwingt. Er grinst schelmisch und schreit ihm zu: „Let’s go, let’s go!“

Die Pausenminuten verrinnen. Mahlogonolo lässt sich auf den staubigen Boden plumpsen. Auf seinem schwarzen Lockenschopf stecken ein paar trockene Grashalme, sein Gesicht glüht. Unmutig sucht der Achtjährige seine Schuhe zusammen und trinkt noch einen Schluck Wasser aus einem der Hähne, die auf dem Rasen der Grundschule in Centurion auf durstige Kinder warten. Dann verschwindet der schwarze Junge wieder im Klassenraum, Marcello dicht auf seinen Fersen.

Die Grundschule trägt den Namen „Uitsig“, Aussicht. Doch der Blick über die blassgelben Felder gibt nicht viel her: Breite Straßen führen in Neubaugebiete, die immer dichter zusammengewachsen sind. Es zieht immer mehr Pendler in diese abgelegene Gegend, die zwischen der Burenstadt Pretoria und der Metropole Johannesburg zur Arbeit fahren. Früher hieß die Stadt einmal Verwoerdsburg, benannt nach dem Regierungschef Hendrik Verwoerd, der als Begründer der Apartheid gilt. Heute macht sie unter dem Namen Centurion im neuen Südafrika Geschichte: Hier gibt es eine der Schulen, wo die Trennung der Gesellschaft überwunden ist.

Mahlogonolo Makgabo wohnt mit seiner Mutter nur fünf Minuten von „Uitsig“ entfernt und geht dort seit einem halben Jahr in die zweite Klasse. „Manchmal langweilige ich mich, aber ich habe viele Freunde“, sagt der Junge. Er ist eines der 300 schwarzen Kinder, die hier seit 1995 die Schulbank drücken, nachdem die weißen Eltern beschlossen haben, dem Wandel in Südafrika offen gegenüberzustehen.

„Am Anfang gab es mehr Schwierigkeiten“, sagt Gert Smith, Direktor der Grundschule, an der 830 Kinder täglich unterrichtet werden. Er erinnert sich an den weißen Jungen, der nicht aus demselben Wasserhahn wie die schwarzen Kinder trinken wollte. „Da bin ich hingegangen und habe es ihm vorgemacht.“ Und als das weiße Kind den schwarzen Schüler mit dem üblen Schimpfwort „Kaffir“ beleidigte, ließ Direktor Smith die Eltern antanzen. „Sie taten so erstaunt.“ Dieser rassistische Vorfall sei erst vier Monate her, aber die Kinder kämen immer besser miteinander klar. Sogar die Schulsprecherin der ehemaligen Burenschule sei schwarz und mache einen guten Job, sagt der Direktor stolz und zieht mit Nachdruck seine Krawatte zurecht.

Aus dem Klassenraum im zweiten Stock schallt es im Chor: „sch-ei-shine“! Und „mmmh-ei-mile“. Das „magische e“, nicht hörbar, aber deutlich am Wortende zu lesen, steht heute auf Mahlogonolos Stundenplan. Die Lehrerin verlangt einen Satz mit „fine“: „I am fine“, versichert ein blasser Junge mit großer Brille. Bei dem Wort „crime“ schießen fast alle Arme in die Luft. Ein schwarzes Mädchen mit Zöpfen ruft: „Es gibt Kriminalität in den Straßen.“

Marcello hat mit Mahlogonolo getuschelt und seinen Satz vergessen. Er zupft an den Ärmeln seines grauen Schulhemds, lächelt verlegen und zeigt eine riesige Zahnlücke. Mrs. Hettie Botha scheint unbeeindruckt: „Ein Satz mit shine?“ Mahlogonolo hebt die Hand, aber aus der hinteren Reihe schreit jemand: „Die Sonne scheint.“ Mahlogonolos Gesicht zieht sich in Falten: „Mann, du hast meinen Satz geklaut!“ Mrs. Bothas Finger pocht an die Tafel und will einen Satz mit „white“ – „I am white“, sagt wieder der weiße Junge mit der großen Brille. „Okay.“ Mrs. Botha ist nicht begeistert.

Mahlogonolos Blick wandert etwas abwesend im Klassenraum umher. An den roten Ziegelmauern hängen in der „Nationalen Ecke“ ein Foto von Südafrikas Präsident Thabo Mbeki, die Flagge und die vier Landessymbole: die Königsblume Protea, ein Springbock, der Blaukranich und ein Gelbholzbaum. Plötzlich schrillt die Pausenglocke. Die Kinder stürmen ins Freie.

„Ja“, sagt Mrs. Botha, „in den englischsprachigen Klassen sind die meisten schwarzen Kinder. Eltern können auch als Hauptsprache im Unterricht Afrikaans wählen und Englisch im Nebenfach.“ In den höheren Schulen wird eine afrikanische oder ausländische Sprache angeboten.

„Warum ist Mahlogonolo dein Freund?“ Die blonden Locken des Mädchens wippen hin und her. „Er ist nett“, sagt sie knapp. Roxanne mag es, wenn Mahlogonolo und sie Kindergeschichten lesen. Keine weiteren Fragen sind angebracht, denn für die Achtjährige steht fest: „Ich mag ihn eben – er ist mein Freund“, die andere Hautfarbe kommt ihr gar nicht in den Sinn. Nur die Erwachsenen scheinen sich darüber Gedanken zu machen.

Und die etwas älteren Kinder. Altklug erklärt die zwölfjährige Naomi: „Das ist Vergangenheit.“ Die gleichaltrige Jeanne fügt hinzu: „Gott hat uns alle gleich gemacht.“ Sie erzählen von ihren schwarzen Hausangestellten, von denen sie afrikanische Sprachen lernen und die sie wie ihre Mütter lieben. Und den schwarzen Schulfreunden, bei denen sie übernachten dürfen. Doch dann fällt Naomi ein: „Die Jungen sind anders, die streiten und beleidigen sich öfter. Und wenn etwas gestohlen wird, sind es meistens die schwarzen Kinder.“ Jeanne hält dagegen: „Aber es ist unsere Schuld, wir geben ihnen keine Arbeit, das Geld reicht zu Hause eben nicht.“

Mahlogonolo – oder kurz „Hlogi“ – ist in einer Schwarzensiedlung bei Pretoria aufgewachsen. „Aber er ging schon mit zwei Jahren in die Krippe“, sagt Oma Getrude Makgabo. Dort, in „Kids Corner“, spielte er mit weißen Kindern, auch in der Vorschule hatte er Freunde aller Hautfarben. Während seine Mutter Maleeto studierte, schauten die Großeltern nach dem Kind. Und den Kindern ihrer Geschwister. „Dafür sind wir da, so ist das bei uns.“ Die Großmutter sitzt im Hinterhof ihres Hauses in Ga-Rankuwa, und ihr Mann, Swarishang, sagt auf Sotho: „Unsere Kinder sollen auch die bessere Erziehung genießen. Wir haben das Vertrauen in die Townshiplehrer verloren, sie sind das Produkt der Bantu-Erziehung.“ Bantu-Erziehung, das war die zweitklassige Schulbildung, die das rassistische Regime den Schwarzen zugestand. Auch wenn sie abgeschafft ist – Hlogi soll nicht mal mit ihren Spuren in Berührung kommen. „Die Kleinen“, sagt der Großvater, „sind die Zukunft.“

Die Großeltern sind in der Township geblieben, wo sie ihren Garten haben. Getrude bückt sich und zupft halb reife Erdbeeren aus dem trockenen Boden. „Da, die Sprossen des Avocadobaums.“ Der Anbau des Hauses ist auch fertig, und eine Waschmaschine erleichert Oma Makgabos Leben. Wo alle weg sind. „Es ist manchmal ganz schön still“, sagt die 72-Jährige lachend. Hlogi kommt nur noch in den Ferien zum Spielen. Dann hängt er nicht im Gummireifen, wie in der Schule, sondern jagt ihn mit den Nachbarsjungen über den staubigen roten Weg. Doch meistens will er schnell zurück. Er ist aus dem Townshipleben herausgewachsen.

Mit vielen anderen Kindern hat sich Mahlogonolo nach der Schule unter dem „Lapa“, einem Strohdach, versammelt. Für berufstätige Eltern ist die Betreuung der Kinder am Nachmittag an der Schule ideal. Mahlogonolo beißt kräftig in den Donut, das ausgeteilte Mittagessen. Er hockt mit Marcello zusammen und freut sich aufs Cricketspiel. Der „weiße“ Sport ist sein Favorit: „Ich liebe Cricket“, und das als Fußballfan. Marcello ist begeistert, er zählt auf seinen schwarzen Freund. Er hat ihn noch nie besucht, aber das hat nur den praktischen Grurnd, dass ihn sein Vater immer früher abholt. Mahlogonolo ist sich sicher: „Er spielt nur mit mir.“ Sie rennen über das Feld und tollen herum.

„Ist es schon fünf Uhr?“ Der Tag wird doch lang, und Mahlogonolo wartet auf seine Mutter, die täglich in aller Eile ihre Arbeitsstelle bei einer deutschen Autofirma in Pretoria verlässt, um ihren Sohn abzuholen.

Hlogi lümmelt sich auf dem Autositz und fragt: „Mama, ein Hamburger kostet nur . . .“ Quietschend rollt das türkisgrüne Eisentor zurück, und die beiden kehren ein in ihre Siedlung „The Reed“, im Schilf. Die Abendsonne taucht fast hinter den grünen Blechdächern der Häuseranlage unter. Maleeto Makgabo schüttelt nur den Kopf, als Hlogi sofort ins Nachbarhaus rennt und mit dem Skateboard seines Freundes wiederkommt. „Das ist immer so.“ Die Kinder strömen zusammen und spielen, Hlogi ist das einzige schwarze Kind in der Nachbarschaft. „Das ist okay“, sagt die Mutter. „Wir fühlen uns akzeptiert. Alle grüßen nett, aber das ist es auch.“ Richtig heimisch sei es „Im Schilf“ nicht, dazu fehle die freundliche Wärme des Alltags aus ihrem Dorf. Aber als arbeitende Mutter entschied die 30-Jährige, das Leben im weißen Centurion zu versuchen. In „Uitsig“ glaubt sie ihren Sohn in guten Händen. „Die Lehrer sind engagiert und hilfsbereit.“

„Sicher“, sagt sie, „das Wohnen in Pretoria wäre für mich einfacher gewesen.“ Aber sie wollte näher an Johannesburg sein, der afrikanischen Stadt. So ist sie mit dem ehemaligen Verwoerdburg auf der Hälfte der Strecke einen Kompromiss eingegangen. Die zierliche Frau zuckt die Schultern: „Es wird nicht für immer sein.“

Die Mutter macht sich ans Abendbrot, und Hlogi hängt vorm Fernseher, aus dem die schwarze „Kwaito“-Musik dröhnt. Morgen ist wieder ein neuer Tag in „Uitsig“, und für den Jungen ist der Ausblick positiv: Er und seine Altersgenossen werden zur ersten unbeschwerten Generation im neuen Südafrika heranwachsen.

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