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Der Chor wuselt im Sandkasten

Ein 50-jähriger Mann rutscht auf Knien mit einer Taschenlampe bewaffnet durch gebrauchtes Plastik, das deutsche Verse aufsagt. Das klingt bedenklich, ist aber Kunst und von der Expo bis zur Berliner Museumsinsel auf Erfolgskurs: Manfred Meihöfer und sein Vereinigtes Gummitierensemble. Ein Porträt

Zur Expo war Meihöfers Buddelkiste eher installationsmäßig in einer Galerie untergebracht

von EVA BEHRENDT

Am Anfang war ein Flohmarkt. Dort erblickten es der Schauspieler Manfred Meihöfer und die Bühnenbildnerin Cary Gayler unter einem Haufen Eisengerätschaft, einsam und unerkannt. Es: ein handspanngroßer Teddy aus hartem Gummi, bläulichgrün gefärbt wie eine Wasserleiche. Die beiden Künstler befreiten das Spielzeug durch Kauf: erster Akt der Beseelung.

Jahre später hat der Bär zwar Luft verloren und die Gestalt einer platt gewalzten, den Sommer lang auf Asphalt festgeschmolzenen Leguan-Leiche angenommen. Aber die Familie ist gewachsen, und als Maskottchen bleibt der Bär dabei. Mehrere Dutzend nah bis fern verwandter Artgenossen unterschiedlicher Plastiksorten und Kunststoffverbindungen gehören zu Meihöfers langsam, aber stetig gewachsener Truppe, die inzwischen das schöne Kürzel VGE (Vereinigtes Gummitierensemble) trägt und bereits mit zwei Inszenierungen durch das deutschsprachige Theater tourt. Einzige Kriterien für die Aufnahme in den Club: Labellosigkeit oder markante, randständige Zeitspuren – also keine Mickymäuse, Mitglieder der Lurchi-Connection oder Mon Chichis, sondern tätowierte und geschorene Barbie-Imitate, Figuren aus östlicher Produktion, gerne auch verletzte, abgeknutschte und anderweitig durch besondere Hässlichkeit oder Handicaps individualisierte Gestalten, aufblasbare Schwimmtiere und androide Babypuppen eingeschlossen.

Mit seinem Ensemble hat Manfred Meihöfer das Theater kurzerhand in den Sandkasten verschoben, in die wilde, weite Spielzeugwelt von drei bis zehn. Wie sich herausstellt, ein Regress mit beinah metaphysischer Dimension. Immerhin spielt das VGE bislang deutsches Welttheater der klassischen Sorte, Friedrich Schillers „Räuber“ und Heinrich von Kleists dramatisches Hauptwerk, von Meihöfer intelligent auf den „Ach!“-Seufzer hin kompiliert aus den Wende- und Höhepunkten vor allem aus „Penthesilea“, „Käthchen“, der „Familie Schroffenstein“, des „Prinz von Homburg“. Damit fokussiert er den radikalen, grenzgängerischen Kleist: „Einer, der in einem Atemzug ‚Ich liebe dich!‘ und ‚Lass uns Selbstmord begehen!‘ sagt.“ Und als Nächstes plant der Schauspieler ein Projekt über den Vorzeigeradikalen der klassischen Avantgarde – Artaud, „im Bett“ mit dem VGE.

Meihöfer blickt auf 31 Jahre Theaterleben zurück. Seine Schauspielkarriere begann 1968 mit einem Intermezzo am Max-Reinhardt-Seminar in Wien, dem ein halbes Jahr Folkwangschule, Straßentheater beim SDS, Filmdrehs mit Peter Zadek und flugblattgesättigte Attacken aufs Theaterbildungsbürgertum folgten – vielleicht eine Wurzel seiner Affinität zum Improvisierten, Quasi-Mittellosen, Second-Handigen. Später war der gebürtige Berliner in Bremen, am Hamburger Schauspielhaus, an der Landesbühne Esslingen und am Stuttgarter Staatstheater engagiert, zuletzt am Berliner Maxim Gorki Theater, wo auch in der vergangenen Spielzeit die „Räuber“ im Repertoire liefen.

Mit sichtlichem Vergnügen erzählt Meihöfer die Schiller-Gummitier-Erfolgsstory als Stationenlegende, als angenehme Überraschung, die er scheinbar selbst kaum glauben mag. Vom Sammlerspleen und schrulligen Einfall übers dramaturgeninterne Gerücht, dass „der Meihöfer da was mit Gummipuppen macht“, bis hin zur ersten Einladung auf die Hannoveraner Theaterformen im Expo-Jahr, wo seine Buddelkiste eher installationsmäßig in einer Galerie untergebracht war und selten mehr als zehn Menschen gleichzeitig für eine Weile den Szenen aus dem Hause Moor beiwohnten. Das beliebig auf fünf Stunden dehnbare, völlig ungeprobte Kleinspektakel verfügte über keine abgeschlossene Dramaturgie, sondern über ein paar Standards, die Meihöfer nach Lust und Gutdünken fortentwickelte, mit dem jeweiligen Publikum verknüpfte und zwecks Zigarettenpause großzügig unterbrach. Berühmt auch die Kreuzberger Hinterhofnacht, in der Meihöfer eigentlich nur „für ein paar Freunde“ spielen wollte, dann aber nahezu zweihundert begeisterte Zuschauer anlockte. Was alles zu zahlreichen weiteren Festival-Einladungen und schließlich dem neuen Kleist-Projekt führte.

„Zone/Kleist – Schlachtfeld der Lüste“ hatte diesen Sommer Premiere im Neuen Museum auf der Berliner Museumsinsel, die Antje Borchardt und Matthias Merkle vom Dramatischen Theater mit Gast- und eigenen Projekten unter dem Titel „Götterleuchten“ bespielt haben. Im kathedralenhohen Schacht hatte Cary Gayler einen märkischen Kampfplatz im Modelleisenbahnformat gebastelt: acht bis zehn Quadratmeter Holzpaletten, die sich zu einer Totenwelt fügen. Um den tiefgefrorenen Kleinen Wannsee, auf dem Kunigunde ihre einsamen Rittberger dreht, erstrecken sich sandige Ebenen, elektrisch beleuchtbare Zierweihnachtswäldchen und ein verblichener Spielteppich mit Berliner Falk-Stadtplan-Aufdruck. Heerscharen von Puppen und Gummitieren bevölkern bewegungslos das Feld, aus dem abgeschlagene Gliedmaßen ragen, flankiert von ausrangierten Schreibtischlampen und einem Feldlazarett, dem später ein Eisbär entkriecht. Diese märkische Landschaft beginnt zu atmen und zu seufzen, sobald Manfred Meihöfer sich mit und in ihr bewegt, dem Spielzeug Stimmen leiht und seinen Körper entgegensetzt: aus der Ironie heraus in ein erstaunlich schmerzerfülltes, leidenschaftliches Spiel.

Es sind starre, starke kleine Figuren, hinter denen sich der Puppenspieler nicht verstecken kann. Im Gegenteil: In Meihöfers großen Händen sehen sie zunächst noch mickriger, verwaschener und abgewetzter aus. Wie soll sich das angenagte, fast glatzköpfige Baby, dem frühere Besitzer mit Filzstift einen Schmollmund ins zerknauschte Gesicht geschmiert haben, als Heilbronner Käthchen behaupten? Kann man das grimmige, vollbärtige Püppchen in der Rolle der Amazonenkönigin ernst nehmen? Bleibt Achill mitsamt seinen Klonen nicht eine einzige Lachnummer? (Meihöfer kaufte den Sonderposten identischer Maus-Schwein-Kombinationen einem Händler in Treptow ab und freut sich, dass in jeder Vorstellung von neuem Penthesilea dem Achill original die pinkfarbenen Ohren absäbeln kann.)

Bis hierhin könnte alles nur Trash und Groteske sein: ein Mann um die fünfzig, der mit Taschenlampe bewaffnet im Sandkasten auf Knien rutscht und wie ein Besessener gebrauchtes Plastik deutsche Verskunst aufsagen lässt. Aber mit welcher respektvollen Zärtlichkeit Meihöfer durch seinen Sandkosmos kriecht, wie er einen ganzen Chor wuselnd und quiekend belebt – Meihöfer dreht und quetscht dabei jedes Köpfchen –, wie er Gott selbst spielt und spielen lässt, einen Fußball mit hämischer Grinsefratze, dem er ein zynisch gackerndes Gelächter verleiht: Wahrscheinlich könnte der Mann auch eine angebissene Schrippe als Faust und eine Bierflasche als Mephisto hochhalten und in einen aufs äußerste gespannten Dialog treten lassen. Denn irgendwann funktioniert im Zuschauerkopf die verschüttet geglaubte Kasperletheater-Freischaltung, allerdings zwei Stufen höher: Fantasie fließt, und die lächerlichen Dinge verwandeln sich in das, was Meihöfer als Hypnotiseur für Fortgeschrittene verlangt. Jenseits von bildungsfreier Unschuld, Unmittelbarkeitskitsch und besserwisserischer Dramenschändung.

Nächste Vorstellungen von „Schillers Räuber“ am 6., 13. und 20. September im Nationaltheater Weimar

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