: Mehdorn und der Handyhirsch
DAS SCHLAGLOCH von FRIEDRICH KÜPPERSBUSCH
„Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Fahrgäste: In wenigen Minuten erreichen wir – gar nichts.“ (Existenzialistische Durchsage, geträumt)
Die guten Dinge im Leben (zum Beispiel: französische Käseplatte, 14,80 DM) dauern nämlich oft länger, und manche Wünsche („Könnte ich vielleicht ein bisschen Butter haben?“) bleiben ein stetes unerfülltes Sehnen. Nun will Bahnchef Mehdorn die Speisewagen abschaffen. Er sollte wissen, dass auch Wir in den Speisewagen ihn gern abschaffen würden: Eine runde Kopfschusslimo aus dem Rheingau für alle. Und dann den Kannibalenteller „Hartmut“, bitte!
„Wir bitten unsere Gäste, vom Gebrauch der Mobiltelefone abzusehen!“ Dieses Stück ausformulierter Menschenliebe allein wäre aber Grund, alle rollenden Restaurants aufzubocken und über deutsche Innenstädte zu verteilen. Gäbe es stationäre Gaststätten mit diesem goldenen Mitropa-Grundsatz, man säße und äße und fragte nach nichts mehr sonst.
Der Herr am Zweiertischchen in Fahrtrichtung mir gegenüber jedoch brüllt das ganze Elend seiner scheiternden Ehe seit Köln in sein Telefon. Das Bier ist gut, der Empfang ist schlecht; und bald verständigen wir Mithörer uns augensprachlich auf volle Solidarität mit seiner armen Frau. Exfrau, wissen wir wenige Kilometer und ein „Hasseröder“ weiter; und wenn er ihr so aufs Sofa geascht hat, wie er hier den Nichtrauchersitz einpulvert, dann möchte man sich sein Handy kurz leihen und der Geplagten im Namen aller Speisewagengäste raten, bitte hart und unerbittlich zu bleiben.
Doch er röhrt, säuft und raucht weiter: „Man kann doch über alles noch mal reden!“ Obgleich ihm der Kellner gerade den gegenteiligen Gedanken nahe zu legen versucht hat. Bei Wuppertal überkommt uns menschlicheres Empfinden: Wer so sich selbst vergisst; säuft, schreit und um der Liebe willen den Hass der rollenden Notgemeinschaft auf sich nimmt – der ist ein unglückliches Kind Gottes wie wir alle und möge erhört werden. Das sieht auch das Pärchen mit den leeren Mineralwasserfläschchen so: Dreimal durchquerten sie den Speisewagen auf der Suche nach einer Fiktion. Einem freien Sitzplatz in einem Abteil also. Endlich fügten sie sich einer anderen goldenen Mitropa-Regel: „Wir essen jedes Unglück auf, das euch in der Küche widerfährt, wenn wir hier nur ein bisschen sitzen dürfen.“ Erst teilnahmlos, dann genervt folgten sie dem lauten Solo des einsamen Hirschen am Handy. Nun endlich spiegeln auch ihre Augen Erbarmen. Brigitte – wir alle sind inzwischen mit der Vollgejammerten per Du – hat es offenbar Jahre mit dem Schreihals ausgehalten, nun möge sie ihm noch diese erflehte letzte Chance geben. Wenn sie jetzt ja sagt, nüchtern wir ihn bis Hagen aus und stecken ihm sogar das Hemd wieder in die Hose.
Als er scheitert, scheint das rollende Restaurant geschlossen weinen zu wollen. Wir haben an ihm gelitten, mit ihm gelitten, nun leiden wir für ihn mit. Nur er, das fette, laute, verlogene Monstrum – setzt von Hagen bis Dortmund noch drei weitere Telefonate ab: Helga, Uschi und Renate erfahren, dass ja nun mit Brigitte leider nichts mehr sei, und was sie denn jetzt heute Abend noch vorhätten. Ohne Speisewagen wüsste ich nicht, dass es Renaten gibt, die sich solche besoffenen Dumpfklumpen tatsächlich nachts um 23 Uhr vom Dortmunder Hauptbahnhof abholen.
Es zählt zu den ungeklärten Menschenrechtsfragen, dass andererseits Kellner und Koch am nämlichen Ziel nach 14 Stunden Rühreibraten einsam ins Hotelbett kippen müssen. Ab Hagen hätten sie die Stühle hochgestellt, wären die nicht festgeschraubt. So sammelten sie, Tischlein-leck-mich, die Decken ein, kassierten ab und ließen sich in Gespräch über den Da-gibt-es-nichts-zu-Feiern-Abend verwickeln. Die Dienstpläne scheinen seit Jahren bereits so geschmiedet, dass es gleich mit Schlechte-Laune-Garantie auf die Reise geht. Bei Strecken ab Berlin-Ostbahnhof ist am Zoo die Erkenntnis rum, dass die Kaffeemaschine streikt; in Wolfsburg ist das Putenschnitzel aus der Schleswig-Holstein-Aktionswochenkarte alle, und in Bielefeld schwappt der Gröhl aus dem überfüllten Raucherbistro so dermaßen durch den Waggon, dass der Ruf nach Dienstwaffen für Mitropa-Personal laut wird.
Weil kochen, kellnern, abräumen und Saalschutz für drei Mitarbeiter über 800 Kilometer ganz schön viel Arbeit ist, probiert die Bahn seit längerem aus, wie das mit zwei Leuten läuft. Grandios natürlich. Und jedesmal, wenn das Bordpersonal auf die Anzüglichkeit „Kann ich bestellen, bitte?“ mit einem sauber simulierten Totalausfall des Hörgeräts antwortet, pfeift es im Deckengebälk: „Wir begrüßen die zugestiegenen Fahrgäste. Im Speisewagen zwischen der ersten und zweiten Wagenklasse erwartet Sie unser freundliches Mitropa-Team!“ Es fällt schwer, hier nicht eine mehdornistische Verelendungstrategie zu argwöhnen: Treib das Passagierpack aus überfüllten Abteilen und mit Glücksverheißungen wie „lecker essen!“ – „noch Sitzplätze frei“ und „Raucherecke“ in ein rollendes Notstandsgebiet, wo man Personal streicht, bis der Service so nieder ist, dass alle einstimmen: Dann schon lieber gar kein Speisewagen. Wenn’s diesmal noch nicht hinhaut, kann man von zweien immer noch eine Stelle streichen; irgendwann Endstation.
Radieschen, Salatgurke gehäckselt, Petersilie, leichtes Joghurtdressing großzügig; erlesene Käsesorten, reichlich Butter, unerklärlich krosse Brötchen, dazu auch dunkles und schwarzes Brot. Hinter sacht getönten Scheiben brennt die Abendsonne eine orangerote Kruste auf viel mehr Landschaft, als man diesem Land gemeinhin unterstellt. Neben mir auf einem der vielen freien Sitze frischer Lesestoff aus einem wohl sortierten Bahnhofskiosk; und schräg gegenüber verschwindet gerade eine aromatische Rinderklößchensuppe in einem Mund, der für den weiteren Verlauf des Abends ein gutes Gespräch zu verheißen vermag. Eben überraschte mich der Zugchef mit der zutreffenden Bemerkung, einer ehrlichen Haut wie mir sei nicht abverlangt, die Mahlzeit für das Hervorfingern der Bahncard zu unterbrechen, und man möge doch bitte die kleine Lärmbelästigung aus der Küche entschuldigen, da man das Geschirrspülen von Maschine auf Mehdorn umgestellt habe, ginge halt ab und zu etwas zu Bruch. „Scherben bringen Glück!“, lachen wir, und wünschen dem Mann gutes Vorwärtskommen in seinem neuen beruflichen Umfeld. Nur wenige hätten es uns Deutschen zugetraut, in einem historischen Dreisprung – Volkswagen, mehr Demokratie wagen und schließlich Speise-Wagen – erneut eine friedliche Revolution auf die Gleise zu bringen.
Der Abriss sämtlicher Autobahnraststätten war ein gewaltsamer Akt; zugegeben – aber große Zeiten fordern große Opfer. Dass man Mobiltelefone so programmieren kann, dass sie beim zweiten Anruf ihrem Benutzer den Schädel wegsprengen, hat gerade viele Technologiekritiker mit der neuen Zeit versöhnen können. In der Bewegung bis zuletzt umstritten war der empörende Missstand, nach gehabter Mahlzeit aufstehen und anderswo rauchen zu müssen. Mit der vollständigen Abschaffung aller Nicht-Speisewagen löste sich auch dies.
Fotohinweis: Friedrich Küppersbusch ist TV-Journalist und lebt in Dortmund-Barop.
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