: Chance für Analphabeten
Der Verein „Arbeiten und Lernen mit Schreibungeübten“ motiviert junge Leute, den Schulabschluss nachzuholen. Bundesweit vier Millionen Menschen betroffen
Seine zweite Chance wollte Mario nicht verpassen. Die Sonderschule hatte der 19-jährige Berliner nach der neunten Klasse abgebrochen. Richtig lesen und schreiben konnte er dennoch nicht. Jetzt drückt er beim Berliner Verein „Arbeiten und Lernen mit Schreibungeübten“ die Schulbank.
Mit seinem Schicksal steht Mario nicht allein. Nach Schätzungen der Unesco können bundesweit rund vier Millionen Menschen nicht oder nur sehr schlecht lesen und schreiben. Der internationale Alphabetisierungstag am heutigen Samstag soll auf das Problem dieser Menschen und die sozialen Folgen aufmerksam machen.
Mit einem Hilfsjob hielt sich der Berliner bis zu jenem Tage über Wasser, an dem ihn sein Arbeitgeber feuerte. Seit gut vier Monaten lernt Mario jetzt und arbeitet gleichzeitig in den schuleigenen Werkstätten mit. Ein Jahr hat er in dem vom Arbeitsamt geförderten Projekt Zeit, um lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Was in seiner Schulzeit schief gegangen ist, weiß Mario. „Die haben mich zu wenig gefördert.“ In der vierten Klasse wechselte Mario von der Grund- auf die Sonderschule.
„Wir sind Kumpels geworden“, sagt der junge Mann zu seinen Mitschülern. Gegenseitige Hilfe sei angesagt. Mit dem Schulzeugnis in der Tasche will sich Mario im Frühjahr als Facharbeiter bei der Berliner Stadtreinigung bewerben. Dort hat er schon ein Praktikum absolviert. Einen Keilriemen bei einer Kehrmaschine hat Mario da schon gewechselt. „Ich bin handwerklich begabt und lerne täglich dazu“, sagt er stolz. Auf die Idee, den ein Jahr dauernden Kurs abzubrechen, ist Mario bislang nicht gekommen. „Das ziehe ich jetzt durch. Mir geht es mit dem Kurs besser.“ Selbstsicherer sei er geworden und motivierter.
Zurzeit erlebt der Berliner Verein, der sich an junge Erwachsene richtet, einen Ansturm. Maximal 30 Plätze stehen pro Kurs zur Verfügung. Für die jüngste Weiterbildung meldeten sich gleich 40 Interessenten. Pro Jahr werden zwei Kurse angeboten. Mit einer Kombination aus theoretischem Unterricht und praktischer Arbeit ist das Angebot für Analphabeten nach eigenen Angaben in Berlin einmalig.
Die geschäftsführende Vorsitzende Marie-Luise Oswald verschweigt nicht, dass der Umgang mit schreib- und leseungeübten Schülern auch an die Pädagogen besondere Anforderungen stellt. Schema F greife nicht: „Das System ist wie in der ersten Klasse, nur viel konsequenter.“ Die Lehrkräfte müssten sich auch über kleine Lernerfolge freuen können, meint die Pädagogin.
Der am Herrnhuter Weg ansässige Verein hat sich viel vorgenommen. Nach einer gerade angelaufenen Testphase soll das „Projekt Gewächshaus“ in rund eineinhalb Jahren durchstarten. Dort sollen ältere Erwachsene, die gerade lesen und schreiben gelernt haben, in der Ökowerkstatt arbeiten und Geld verdienen können. Gärtner, aber auch Disponenten und Auslieferer werden dann gebraucht, um das eigene Obst und Gemüse zu ernten und an den Mann zu bringen.
MELANIE AHLEMEIER (DPA)
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