Direktor im Wahlkampfzirkus

André Brie leitet den Wahlkampf des PDS-Spitzenkandidaten Gregor Gysi in der Hauptstadt. Der 51-Jährige gilt als strategischer Kopf und schärfster Kritiker der Partei. Er setzt darauf, dass die PDS im Wahlkampf nicht allzu kenntlich wird, und hofft auf den „Durchbruch“ für die Bundestagswahl 2006

„Wir können nicht unsere Stärke ausspielen, zu allem nein zu sagen.“ „Ich war schon in der DDR kritisch, aber nur, wenn es mich nicht allzu viel kostete.“

von ANDREAS SPANNBAUER

Wenn Gregor Gysi in der ersten Reihe steht, dann sitzt André Brie unscheinbar in der letzten und beobachtet aufmerksam die Performance. Hin und wieder muss er es sich dann gefallen lassen, dass der Spitzenkandidat der PDS mit einer ganzen Stange Marlboro in der Hand vor die Presse tritt. Oder sich zumindest mit demonstrativem Hedonismus ein Lungenbrötchen anzündet, während sich der PDS-Fraktionsvorsitzende Harald Wolf neben ihm damit plagt, die Niederungen der Berliner Landesfinanzen zu durchschreiten. An diesem Tag streckt Gysi seinem Parteifreund Brie nach einem genüsslichen ersten Zug an der Zigarette sogar die Zunge heraus: Ätsch, wieder nicht die Anweisungen befolgt.

Brie erträgt es gelassen. Verglichen mit den Ratgebern des CDU-Spitzenkandidaten Frank Steffel, der im entscheidenden Richtungswahlkampf vor der Bundestagswahl von einem Fettnäpfchen ins andere stolpert, hat der Wahlkampfleiter der PDS, selbst ein „Gelegenheitspaffer“, mit der intensiven Nikotinabhängigkeit seines redegewandten Schützlings ein verhältnismäßig kleines Problem.

Auf den ersten Blick mutet es seltsam an, dass ausgerechnet der etwas trocken auftretende Brie für das richtige Wahlkampfdesign des talentierten Rhetorikers Gysi sorgen soll. Doch mit dem 51-Jährigen hat die PDS ihren Profi ins Rennen geschickt. André Brie hat alle Bundestagswahlkämpfe seiner Partei seit der Wende geleitet, die Wahlprogramme geschrieben, das Parteiprogramm mitverfasst. Eigentlich sollte 1999 Schluss mit dem Wahlkampf sein.

Doch jetzt muss Brie noch einmal ran. „Die strategische Bedeutung für die gesamte Bundesrepublik ist so gut wie nicht zu überschätzen“, sagt er über die Berlin-Wahl und hofft auf den „Durchbruch“ für die PDS. Die Beteiligung an einer Koalition in Berlin soll den Weg für eine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene im Jahr 2006 frei machen.

Doch noch gibt es Schwierigkeiten. Brie und seinem Team ist es bisher nicht gelungen, die Parteibasis im großen Ausmaß zu mobilisieren. Ausgerechnet wegen seines überragenden Bekanntheitsgrades wird der Kandidat der PDS immer weniger als PDS-Kandidat wahrgenommen. „Wir haben Gysi und die Partei bisher nicht zusammengebracht“, räumt Brie ein.

Die erstmalige Möglichkeit einer Regierungsbeteiligung in Berlin stellt die Partei außerdem vor ungeahnte Probleme. Brie: „Die PDS kann nicht die Stärke der Vergangenheit ausspielen, einfach zu allem nein zu sagen.“ Bisher herrscht in der Partei ein Burgfrieden über Risiken und Chancen einer Regierungsbeteiligung in einem Bundesland, das noch jahrelang pleite sein wird. Wenn die Dinge konkret werden, fürchtet Brie, „dann gehen die Differenzen erst richtig los“.

Dass der Talkshowbaron Gysi „die Berliner Fachpolitik nicht drauf hat“, daraus macht sein Wahlkampfleiter erst gar keinen Hehl. „Wir setzen auf die bundesweiten Sympathiewerte und die Zukunftskompetenz, die ihm zugeschrieben wird.“ Auch die Tatsache, dass Gysi mit seiner Bewerbung für das Amt des Regierenden Bürgermeisters einen Realismus im Sinne Che Guevaras betreibt, stört da wenig. Das entscheidende Signal lautet: In der Bundeshauptstadt und zukünftigen europäischen Metropole Berlin konkurriert die PDS auf Augenhöhe mit den Volksparteien CDU und SPD. Mit einer „Berliner Rede“ und der Vorstellung eines Wahlkampfteams hat Brie seinem Kandidaten für die nächsten zwei Wochen schon einmal demonstrativ staatstragendes Auftreten verordnet.

Selbst im Westteil der Stadt rechnet sich die PDS bis zu acht Prozent der Stimmen aus. Jüngere Linkswähler, die von den Grünen und der SPD enttäuscht sind, sollen dort mit „Frechheit im Erscheinungsbild“ und einer Fokussierung des Wahlkampfes auf das Internet gewonnen werden. Erste Erfolge sind bereits zu vermelden. Erstmalig, so freut sich der PDS-Europaabgeordnete und promovierte Politikwissenschaftler, sei es der PDS gelungen, auch die Gruppe der 35- bis 40-Jährigen überproportional anzusprechen.

Im Gysi-Wahlkampfquartier, einem sonnendurchfluteten Flachbau mit durchgehender Glasfassade an der Friedrichshainer Karl-Marx-Allee, wird deswegen unter anderem ein kostenloser Online-Zugang angeboten. Für den Wahlkampf will die Partei unter anderem das Rapper-Projekt „Brother’s keepers“ gewinnen, das mit einem Stück über den von Rechtsextremisten ermordeten Mosambiquaner Alberto Adriano in den Charts landete – Xavier Naidoo statt Hannes Wader ist neuerdings angesagt.

Bei dem modernen Auftritt handelt es sich allerdings um ein potemkinsches Dorf: „Unser Wahlkampf widerspricht der Alltagskultur der PDS“, gesteht Brie bedauernd ein. An der Basis beobachtet er noch immer die alte SED-Mentalität „Einheit, Reinheit, Geschlossenheit“, auch wenn dies natürlich niemand mehr unterschreiben würde. Noch immer trifft man bei den Genossen auf die Erwartung, der Staat habe alles zu richten und die Parteiführung die richtige Linie auszugeben.

Mit seinem Kandidaten verbindet Brie eine intensive gemeinsame Geschichte. Irgendwann 1989 wurde Brie, damals wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Internationale Beziehungen in Potsdam, um Mitternacht zu dem damaligen SED-Vorsitzenden Gysi in das damalige Gebäude des Zentralkomitees gerufen – „bei einem Gang zum Honecker-Nachfolger konnte man sich nur unwohl fühlen“ – und um seine Mitarbeit als Redenschreiber gebeten. Von Anfang an bestimmten beide die Geschicke der PDS – bisweilen mit skurrilen Aktionen. 1994 sorgte Brie unter anderem dafür, dass sich Gysi ohne Sicherung in 35 Meter Höhe für den Erhalt des Palastes der Republik stark machte. Im Bundestagswahlkampf 1998 mimte er den „Wahlkampfzirkusdirektor“, während Gysi auf einem Elefanten durch die Manege ritt und die unter Höhenangst leidende heutige Bundesvorsitzende Gabi Zimmer auf einem Trapez durch die Luft gezogen wurde – gegen ihren Willen, auf Anweisung von André Brie. „Von der Höhenangst wusste ich damals nichts“, sagt er.

Die „Viererbande“, wie die Männerriege aus Brie, Gysi, Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch und dem ehemaligen Vorsitzenden Lothar schon einmal genannt wird, ist allerdings in der Partei nicht unumstritten.

Vor allem Brie übernahm bei dem Versuch des Quartetts, die Partei mit zentralistischen Methoden zum Reformismus zu revolutionieren, stets die Rolle des Bad Cop. Er beschuldigte die PDS, „kein positives Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie gefunden“ zu haben, und profilierte sich als schärfster Kritiker der fehlenden Distanzierung von der SED.

Während die Partei noch mit dem Slogan „Veränderung beginnt mit Opposition“ warb, definierte Brie längst die Bereitschaft zur Regierungsbeteiligung als Ziel der Politik. Den Mitgliedern der Kommunistischen Plattform legte er den Parteiaustritt nahe. „Der Stalinismus war nicht die Pervertierung des Parteikommunismus, sondern seine Kenntlichkeit.“ Das brachte Brie, dessen Vater als einziges Mitglied einer jüdischen Familie den Nationalsozialismus überlebte, unter anderem den Vorwurf des „Faschismus“ ein. Klügere Kritiker werfen ihm vor, für die Regierungsfähigkeit das linke Profil der Partei aufs Spiel zu setzen.

Die scharfe Abrechnung mit der DDR erklärt der geschiedene Vater von zwei Töchtern mit seinem eigenen Verhalten in der Vergangenheit. „Ich war kritisch, aber nur, wenn es nicht allzu viel kostete“, sagt Brie heute. Sein Protest gegen das Verbot der Pro-Gorbatschow-Zeitschrift Sputnik brachte ihm 1988 ein Parteiverfahren ein, auf das er mit einem „widerlichen Kotau“ reagierte. Heute nennt er seine Haltung „eine Mischung aus Feigheit und Überzeugung, dass es nur mit der SED geht“. Aber das sei damals gewesen. Seine Einwände gegen die eigene Partei sieht Brie dadurch nicht delegitimiert: „Es gibt ein psychologisches Moment für meine harte Kritik, aber die sachlichen Gründe entscheiden.“

André Brie tritt für einen „Sozialismus mit einer libertären Orientierung“ ein. Es gehe um eine „Überwindung der Kapitaldominanz“ zugunsten „existenzieller gemeinsamer Interessen der Gesellschaft“. Zu einer Kommandowirtschaft führen soll dies nicht. In den Entwurf für das neue Parteiprogramm schrieb Brie unter anderem, das Gewinnstreben von Unternehmern sei „unverzichtbar für eine innovative und anpassungsfähige Wirtschaft“.

Trotzdem bleibt der Sozialismus für Brie „eine hochaktuelle Frage“. Diese gewinne, etwa durch die Debatte um den entfesselten globalen Kapitalismus, zunehmend an Brisanz. Der PDS kommt in seinen Augen im bundesdeutschen Parteiensystem die Funktion zu, ein „Ferment der Erneuerung der Gesellschaftskritik“ und eine linke Herausforderung für SPD und Grüne zu sein.

Dafür steigt Brie, der mit seinem Kandidaten sogar ein Haus in Pankow teilt, zurzeit jeden Tag um sechs Uhr aus dem Bett. Mindestens zehn Stunden macht er dann „mit Haut und Haaren“ Wahlkampf: Organisation, Theorie, Werbung und Entwerfen von Wahlslogans und Aktionsplänen. Wenn Zeit bleibt, gibt der Aphoristiker dazu drei Presseerklärungen als Europaabgeordneter heraus und schreibt nebenbei Beiträge für die Frankfurter Allgemeine oder die italienische Tageszeitung il manifesto.

Der Wahlkampf in Berlin ist für Brie „die schönste Arbeit, die ich je in meinem Leben gemacht habe“. Der Sommerurlaub auf Usedom ist der versuchten Einführung des Sozialismus schon zum Opfer gefallen. Brie bedauert das wie jeder vernünftige Mensch: „Herbst ist einfach nicht meine Jahreszeit.“

Das Abgeordnetenhaus wird am 21. Oktober gewählt. Brie rechnet mit „20 Prozent plus X.“