: Chance zur Wehrwende
Scharpings bevorstehender Abgang ist ein Glücksfall für Schröder. Nun kann der Kanzler die Hauptaufgabe des Verteidigungsressorts angehen: die Abschaffung der Wehrpflicht
Gleichgültig, wie viele Stunden oder Tage der Verteidigungsminister noch durchsteht, sein Fall wird sich als personalpolitischer Glücksfall für den Kanzler erweisen. Flach gedachte Kommentare sehen in seinem drohenden Untergang zwar ein Schwächezeichen der Regierung. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Müsste man den glücklosen Mann, wenn auch entlastet, noch ein ganzes Jahr mitschleppen, so offenbarte dies eine unverzeiliche Führungsschwäche des Chefs. Dazu wird es nicht kommen. Der Abgang wird sich als Gewinn auszahlen – wenn Gerhard Schröder das Richtige daraus macht.
Die schnelle Demontage des Ministers kommt nicht nur zur rechten Zeit, sie ist ein Wink des Himmels. Die rechte Zeit: das ist vor Beginn des offenen Wahlkampfs und vor dem Wahlsieg und der Regierungsbildung Schröder II. In einem halben Jahr wird der Vorgang vergessen sein. Der Wink des Himmels: Der Kanzler bekommt unerwartet die Hände frei für die Einstellung eines neuen Ministers, mit dem sich die schwerste Aufgabe des Verteidigungsressorts in der nächsten Legislaturperiode besser lösen lässt: die Abschaffung der Wehrpflicht. Sie ist unabweisbar, wenn der Kanzler europäische Außenpolitik machen will. Der Innenpolitiker Schröder ist dazu noch nicht ganz willig, nun aber muss er. Mit dem Verschwinden seines ehemaligen Konkurrenten Scharping, für den er 1998 keine andere Verwendung als die zum Verteidigungsminister fand, wird der Kanzler ein Stück weiter zum Jagen getragen.
Auch politisch steht nur noch wenig gegen die große Aufräumaktion in der Bundeswehr. Das, was dagegen spricht, war in der Person des Ministers versammelt. Scharping war mit Überzeugung der Repräsentant einer untauglichen Bastion im korporatistischen Staatsgebäude. Die Wehrpflicht bringt Deutschland kein Pfund Souveränität ein, nur Unbeweglichkeit. Schließlich verteidigte der Minister Jobs, mögen sie auch noch so nutzlos sein, wo Schröder keine neuen hervorzaubern kann. Schon damit war Scharping unbauchbar für die Amtszeit Schröder II.
Es bedurfte kaum der Stoßgebete für Schröder, der Verteidungsminister möge sich alsbald selbst entleiben. Der Kanzler brauchte dafür keinen Finger zu rühren. Hätte sich Schröder dazu zwingen müssen, so hätte dies das Wahlvolk der Linken womöglich übel genommen. Denn der Minister, der sich endlich einmal mit Gemüt frei machen wollte, ist durchaus ein Mann der Kleinbürger-SPD. Die verzeiht gerne Geschmacksausrutscher – wenn sie nur menschlich sind.
Zu sehr Fleisch vom Fleische der Bonner politikverwaltenden Sozialdemokratie, begriff der Minister nicht, was Deutschland mit seiner Bundeswehr alleine noch anfangen kann: sie aufzulösen und ihre Mittel in eine europäische Armee aus Berufssoldaten einzubringen. Denn die deutsche Wehr, in politischer Funktion kaum benutzbar, ist heute nur noch eine Ansammlung aus Beamtenkarrieren, Rechtfertigung des Zivildienstes und lokaler Standortinteressen in der Provinz.
Dieser unhandliche Haufen, der zu viel Geld verschluckt und zu viel Energie blockiert, ist eines der großen Hindernisse auf dem Weg zu einer europäischen Außen- und Befriedungspolitik. Es gibt auch sonst noch Hindernisse genug, vor allem die funktionslosen und teuren Atomstreitkräfte der Briten oder die überflüssigen Flugzeugträger Frankreichs. Dies alles zu beseitigen und umzuformen dauert aber etwas länger.
Die Deutschen sind jetzt in der günstigen Lage, mit einer zügigen Beseitigung der Wehrpflicht einen Anstoß zu geben und die übrigen Europäer ein paar Schritte mitzuziehen. So weit aber reichte die politische Energie des fantasielosen Ministers Scharping nicht. Und der Kanzler, erst im vergangenen Frühsommer mit seinem Plädoyer für eine europäische Verfassung wach geworden, ist noch nicht ganz so weit. Nun muss er mit der Bestellung eines neuen Ressortchefs Zeichen setzen. Den Außenminister und seine Partnerpartei hat Schröder auf seiner Seite, die regierungshungrige FDP ohnehin, und auch die Mehrheit des Wahlvolkes hängt nicht mehr an einer Armee, die mit ihren Einsätzen nur die politische Hilflosigkeit der Regierung hervorheben kann.
Der Kanzler kann es sich nicht leisten, den vorüberwehenden Rockzipfel Fortunas nicht zu ergreifen. Schon deswegen nicht, weil die Situation seinem persönlichen Politikstil sehr entgegenkommt. Noch nie bedrängt von strategischen Konzeptionen, kann Schröder am ehesten aus Gefahrenlagen heraus handeln und sein Talent beweisen.
Vor wenigen Monaten ist ihm das schon einmal gut gelungen. Noch acht Wochen, ehe Schröder seinen Landwirtschaftsminister aus dem alten Establishment der Funktionäre feuerte und sich eine fachfremde Frau holte, hatte er nicht einmal gewusst, dass er demnächst eine „Agrarwende“ zu vollziehen haben würde. Geschweige denn, was das überhaupt sei. Nun kann er sich über sich selbst nicht beklagen.
Schröder kann, obwohl es ihn überraschen mag, durchaus riskieren, mit der Wehrwende auf dieselbe Weise zu verfahren. Dass diese Wende in den Wahlkampf fiele, sollte ihn nicht beunruhigen. Die Konservativen können nur wenig Kapital daraus schlagen. Wenn sie als einzige die Fahne der Wehrpflicht hochhalten wollen, müssen sie nationale Ressentiments mobilisieren – wovor die meisten zurückschrecken. Es könnte sich für sie da eine neue Schröder-Falle auftun.
Beim Militärpersonal hat die Linke ohnehin wenig Stimmen zu verlieren. Fängt sie es nur gut technokratisch an, könnte sie auch bei Konservativen Beifall gewinnen. Die Jungen und noch mehr die Frauen hätten sie ohnehin für sich. Und auch innerhalb der Streitkräfte würden es nicht wenige begrüßen, wenn der Grauschleier, den der betuliche Verteidigungsminister über sie hält, endlich verschwände.
Man darf jetzt ein wenig fantasieren: In Anette Fugmann-Hesing, die sich in der Verwaltung militärischer Güter schon auskennt, hätte Schröder eine Ministerin, die Renate Künast auf der Popularitätsskala hinterherjagen könnte. Und die europäischen Nachbarn wären wieder einmal erstaunt über die Modernität der deutschen Sozialdemokraten. Um es mit einem größeren Wort zu sagen: Die Wehrwende wäre eine kräftiger Schritt zur deutschen Emanzipation, die zugleich die europäische Emanzipation weitertriebe.
Letztendlich hätte der Minister jedoch über seine eigene Unfähigkeit stürzen müssen. Stattdessen bedurfte es der Politiker-Angst vor der Pöbelpresse, um die Regierung von ihm zu befreien. Der Kanzler hat bisher die Medien beherrscht, indem er sich von ihnen benutzen ließ und auf sein unverschämtes Glück vertraute. Aber gutes Reaktionsvermögen hilft auf Dauer nicht. Dass er seinen Minister erst in die Bredouille rutschen ließ, um dann einem tüchtigeren Nachfolger die Formulierung der neuen Politik zu überlassen, ist kein Ruhmesblatt. Er selber muss nun die Perspektive bestimmen – und sich dafür auch Prügeln lassen. CLAUS KOCH
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