: Die gespaltene Trauer
Der Kanzler spricht von einem Angriff auf die „zivilisierte Welt“. Damit teilt er den Globus, den er im Widerstand gegen den Terror vereinen wollte
von BETTINA GAUS
Die Eröffnung des bayerischen Oktoberfests in Berlin wurde abgesagt. Die „tragische Entwicklung“ in den USA vertrüge sich nicht mit unbeschwertem Feiern, so die Begründung. Eine nachvollziehbare Entscheidung. Wenige Stunden nach den Anschlägen in New York und Washington wäre organisierte Gaudi auf dem Gendarmenmarkt als Zeichen mangelnden Respekts gegenüber den Opfern erschienen. Aber warum gilt das jetzt – und warum galt es bei anderen Gelegenheiten nicht?
1980 starben bei einem Bombenanschlag auf das echte Münchener Oktoberfest 13 Menschen, Die Wies’n ging trotzdem weiter. Wir lassen uns von Terroristen nicht zur Trauer zwingen, sagten Politiker damals. Ein absurder Satz. Terroristen mögen außerstande sein, einen Politikwechsel zu bewirken oder Gefangene freizupressen. Trauer können sie jedoch allemal erzwingen. Dieses Gefühl entzieht sich kühler, politischer Abwägung. Woran aber liegt es, wenn Tote im eigenen Land weniger Erschütterung hervorrufen als Opfer von Attentaten, die tausende von Kilometern entfernt stattgefunden haben? Nur an deren Zahl?
Wenn das so wäre, dann hätte der Rest der Welt den Völkermord in Ruanda 1994 wohl kaum gelassen ertragen können. Etwa eine Million Frauen, Männer und Kinder sind damals ermordet worden, ohne dass Fahnen auf Halbmast gesetzt worden wären. Jetzt sind US-Ziele angegriffen worden. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat das gestern als einen „Anschlag auf das, was unsere Welt im Innersten zusammenhält“, bezeichnet.
Man möchte hoffen, dass der SPD-Vorsitzende damit nicht die symbolische Bedeutung von Pentagon und World Trade Center gemeint hat. Vielleicht hätte er ja sogar damit Recht – aber so weit liegt das Zeitalter der Aufklärung denn doch nicht zurück, dass ein demokratisch gewählter Regierungschef Militär und Handel öffentlich als die höchsten Werte bezeichnen sollte.
Wenn Schröder das jedoch nicht sagen wollte: was dann? Wollte er seinen Abscheu gegenüber der Ermordung unschuldiger Zivilisten ausdrücken? Dazu hätte er fast täglich Anlass und Gelegenheit. Oder ist es einfach der hohe Blutzoll, der ihn und weite Teile der Bevölkerung in fassungslosem Entsetzen erstarren lassen? Vielleicht.
Natürlich spielt neben dem Schock über die neue Form des Anschlags auch das Fernsehen eine wichtige Rolle. Schon längst würde die Welt die blutigen Auseinandersetzungen im Kongo oder in Tschetschenien nicht mehr kommentarlos ertragen, wenn wir den Opfern live beim Sterben zuschauen müssten. Allein der Konflikt im Kongo hat Schätzungen zufolge bisher etwa 1,5 Millionen Menschenleben gefordert. Der Golfkrieg hingegen erscheint uns noch heute als Krieg ohne Tote – ein Erfolg der seinerzeit äußerst geschickten Medienpolitik der USA
Wir werden wohl nie erfahren, wer die Person gewesen ist, die Sekunden vor dem Zusammenbruch des Wolkenkratzers in New York in einem der oberen Stockwerke verzweifelt ein weißes Tuch schwenkte. Aber sie hat uns die Angst und die Hilflosigkeit der Opfer näher gebracht als jede noch so hohe, zwangsläufig jedoch auch nüchterne Bilanz der Anschläge. Das Mitgefühl und das Entsetzen, das viele jetzt empfinden, speist sich auch aus einem Gefühl der Identifikation mit denen, die es getroffen hat. Viele Leute arbeiten in Hochhäusern. Vielleicht ist Schröders Wort von dem, was „unsere Welt im Innersten zusammenhält“, ganz einfach zu verstehen: Die Angriffe auf amerikanische Weltstädte zwingen die Bewohner aller reichen Industrieländer zu der Erkenntnis, dass auch sie von Terror, Blut und Gewalt bedroht sind. Die Hoffnung, sie blieben von den Wirren der Weltläufte verschont, war schon lange irrational. Aber bis vor zwei Tagen ließ sie sich nicht eindeutig widerlegen.
Das hängt auch damit zusammen, dass der Rest der Welt längst daran gewöhnt wurde, nur Angriffe auf dem Territorium der USA für wirklich dramatisch zu halten. „Terroristen sind jetzt in der Lage, den Krieg in die Städte zu tragen“, sagte gestern der EU-Abgeordnete Elmar Brook im ARD-Morgenmagazin. Jetzt erst? Hat nicht im Juni ein Selbstmordattentäter 20 Jugendliche vor einem Tanzlokal in Tel Aviv in den Tod gerissen? Gab es nicht den Anschlag auf die Diskothek La Belle in Berlin? War nicht auch der Giftgasangriff auf fünf U-Bahnen in Tokio 1995 ein Menetekel, das die Richtung wies?
Nein, das war es nicht. So lange die USA unverletzlich schienen, so lange ließ sich auch der Glaube an die Überlegenheit und damit an die prinzipielle Unangreifbarkeit der Weltsicht von Industriestaaten rechtfertigen. Auf den ersten Blick mag es schlicht als rassistisch erscheinen, wenn um ein getötetes ruandisches Kind weniger getrauert wird als um einen amerikanischen Geschäftsmann. Aber das wäre eine allzu einfache Erklärung.
Um Machtverhältnisse geht es in diesem Zusammenhang, nicht um den Einzelnen. Mögen Vorurteile gegen Homosexuelle und Schwarze noch so weit verbreitet sein, mögen Frauen auch als minderwertig gelten: Die Ermordung einer schwarzen lesbischen US-Bürgerin kann die Welt dennoch mehr erschüttern als der Tod eines weißen, heterosexuellen Mannes anderer Nationalität. „Civis Romanus sum.“ Das ist ein Wert an sich, auch wenn Washington längst an die Stelle von Rom getreten ist.
Mehrere Politiker haben die Anschläge auf US-Städte gestern als „feige“ bezeichnet. Das war vorhersehbar, ist diese Charakterisierung mit Terrorakten doch fast unauflöslich verbunden. Falsch ist sie dennoch. Selbstmordattentate können verblendet, grausam, ungerechtfertigt und dumm sein. Feige sind sie nicht. Sie sind die einzige Waffe, die den Ohnmächtigen verblieben ist. Diese Erkenntnis ist nicht gleichbedeutend mit einer Rechtfertigung der Taten.
Wenn Schröder jetzt von einer „Kriegserklärung an die gesamte zivilisierte Welt“ spricht, dann vertieft er Gräben, die er zuzuschütten hofft. Soll der Satz nicht unsinnig sein, dann muss es neben dem zivilisierten Teil der Welt auch einen unzivilisierten Teil geben. Schröder hat die Welt gespalten, die er doch eigentlich im Widerstand gegen den Terror vereinen wollte.
Gefühle scheinen in Deutschland ein bisschen aufdringlicher als anderswo betont werden zu müssen, um sie glaubwürdig erscheinen zu lassen. Der amerikanische Musiksender MTV sendete nach den Attentaten weiterhin Videoclips. Die deutschen Kollegen von Viva blendeten sich aus und einen Schriftzug ein: „Aus Respekt vor den aktuellen Geschehnissen setzen wir unser Programm vorübergehend aus.“ Müssen wir immer und überall die Musterschüler sein? Selbst in der Trauer?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen