Insidersicht aus dem Kanzleramt

„Die Tür zur Eskalation ist geöffnet, aber es gibt keinen Automatismus.“ Was im Umfeld des Kanzlers über den Nato-Bündnisfall gedacht wird

Protokoll PATRIK SCHWARZ

Der Mann arbeitet im unmittelbaren Umfeld des Bundeskanzlers. Er sprach mit der taz unter der Bedingung, anonym zu bleiben – und beantwortet aus seiner Sicht die Frage des Tages:

Warum war Deutschland bereit, den Bündnisfall zu erklären?

„Der Bündnisfall heißt doch nicht, Führer befiehl, wir folgen dir! Auch wenn der Kanzler von einer ,Kriegserklärung gegen die ganze zivilisierte Welt‘ spricht, liegt doch auf der Hand, dass es sich um eine metaphorische Verwendung des Begriffs handelt. Kriegserklärung heißt, wir fühlen uns so sehr mitbetroffen, dass wir (von den Amerikanern) vollständig miteinbezogen werden. Deshalb hat der Kanzler in seiner Rede (in der Nacht auf Donnerstag im Kanzleramt) auch so stark betont, dass es Konsultationen durch die USA geben wird.“

Zur Frage, wen Schröder mit dem Begriff „zivilisierte Welt“ meint:

„Es ist darüber diskutiert worden, dass wir eine Begriffswahl finden wollen, die nicht ausgrenzend wirkt, insbesondere nicht auf die gesamte islamische Welt. Es ist nicht zufällig, dass nicht die Rede ist von ,westlicher Zivilisation‘ oder ,unserer Zivilisation‘. Dadurch wird Wert darauf gelegt, es handelt sich nicht um einen Krieg zwischen uns und dem Islam.“

Zur Rolle der Europäer im Nato-Rat:

„Machen wir uns doch nichts vor: Wenn die USA uns bitten, den Bündnisfall festzustellen – da sehe ich keinen Handlungsspielraum. Der Beschluss über den Bündnisfall ist ein Vorratsbeschluss, weil nicht sofort reagiert wird.

Die Amerikaner müssen erst noch Beweise vorlegen, dass (die Anschläge in New York und Washington vom Ausland gesteuert wurden und also) keine inneramerikanische Angelegenheit sind. Diese Beweisführung muss erst noch gemacht werden. Diese abgestufte Konsultationslösung ist den Bedenken der Europäer zuzuschreiben.“

Zu den Erwartungen der USA:

„(Die Amerikaner) laufen nicht durch Brüssel und betteln: ,Helft uns, helft uns, weil wir's allein nicht schaffen.‘ (Die Beantragung des Bündnisfalls) ist keine Bitte, weil sie etwa eine solche (Vergeltungs-)Operation nicht allein durchführen könnten, sondern es geht um politischen Beistand (durch die Nato-Staaten).“

Zu möglichen Konsequenzen:

„Es lässt sich nicht dementieren, dass der Beschluss, wie er gefasst ist, die Tür zur Eskalation öffnet – es ist nur kein Automatismus darin. Aber es gibt bestimmte Situationen, die sind einfach präzedenzlos. (Der Angriff auf Amerika) ist etwas anderes, als wenn in der Tiefgarage des World Trade Center eine Bombe losgeht (wie 1993). Da steht einem nicht furchtbar viel an Instrumentarium zur Verfügung – außer in der Nato den Bündnisfall zu erklären. Starke Solidarität zu erklären heißt auch, dass wir mitreden wollen und dürfen, wie wir aus dem Schlamassel wieder herauskommen.“

Zu Möglichkeiten und Grenzen des Krisenmanagments:

„Es ist unglaublich schwierig, saubere politische Analysen und Schlussfolgerungen zu treffen, wenn die Faktenlage nicht da ist. (Weitere Reaktionen) muss man von der Entwicklung der Fakten abhängig machen. Aber wenn die Fakten da sind, dann wollen wir nicht in einen Konsultationsprozess eintreten, der völlig von vorne beginnt und sich 48 Stunden lang unter den Augen der Welt hinzieht.

Deshalb gibt es den Vorratsbeschluss, aber keinen sofortigen Handlungsbeschluss. (Es hätte auch passieren können), dass schon irgendwo bombardiert wird auf der Grundlage von zwei, drei Indizien – die Nato hätte sich dem nicht verweigern können. (Durch den Beschluss des Nato-Rates) ist immerhin anerkannt, dass die Faktenlage (vorerst) nicht ausreicht.“

Zur Frage, warum gerade ein angeblich isolationistischer amerikanischer Präsident auf die Einbeziehung der Bündnispartner setzt:

„Vielleicht gerade wegen dieses Vorwurfs (isolationistisch zu sein) – und um zu zeigen, wir (Amerikaner) stehen da nicht allein. Symbolische Aktionen erfordern auch symbolische Antworten.“

Zum Paradox zwischen Zielsetzung und Anwendung des Nato-Vertrags:

„Der Nato-Vertrag sieht den Büdnisfall eigentlich vor, damit der Starke die Schwachen schützt. In der Logik des Kalten Kriegs war also ein Angriff auf Deutschland zugleich ein Angriff auf die USA. Man hat sicher nicht gedacht, als der Vertrag gemacht wurde, dass der Fall umgekehrt eintritt.“