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„Gefährliche Entwicklung“

Bei einem Nato-Gegenschlag drohen auch in Deutschland Anschläge auf symbolische Ziele, glaubt der Verfassungsschutz

Interview CLAUDIA DANTSCHKE

taz: Nach den Anschlägen in den USA geht auch in Deutschland die Angst vor Terrorakten um. Ist diese Furcht begründet?

Herbert Müller: Wer jetzt Angst schürt, schürt Hysterie. Ich sehe noch keinen Anlass, dass wir hier in Deutschland ins Fadenkreuz solcher Täter kommen.

Die Spur der Täter führt in die Bundesrepublik. Handelt es sich dabei nur um Einzelpersonen – oder um ein ganzes Netzwerk?

Meine Arbeitsthese ist: Es gab einen Drahtzieher, der den Überblick hatte und die Individuen für den konkreten Fall zusammenführte. Aber die einzelnen Personen hatten nicht unbedingt Kontakt zueinander. Deshalb konnten die Vorbereitungen von den Nachrichtendiensten nicht erfasst werden. In einer solchen Struktur lassen sich kaum Ansätze finden, um Gegenmaßnahmen zu entwickeln.

Gibt es für diese Taten eine ideologische Basis, die breite Kreise von Menschen erfasst – von denen dann nur ein kleiner Teil aktiv wird?

Diese ideologische Basis ist mit einiger Sicherheit vorhanden. In der islamistischen Szene wird eine Dschihad-Ideologie gepflegt – ein militanter Islam, der nicht darauf abzielt, dass sich der Mensch persönlich, geistig, moralisch und ethisch vervollkommnet. Kinder werden bereits auf den späteren Einsatz auf dem Schlachtfeld vorbereitet, statt sie zum Frieden zu erziehen. In einer solchen Umgebung wachsen die militanten Kämpfer heran, die zu solch unheimlichen Taten bereit sind.

Seit der zweiten palästinensischen Intifada ist eine zunehmende Verbrüderung arabischer und türkischer Islamisten zu beobachten, darunter auch die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs. So beteiligen sich Funktionäre dieser größten türkisch-islamistischen Vereinigung in Deutschland an arabischen Anti-Israel-Demonstrationen.

Das ist eine gefährliche Entwicklung. Die türkische Zeitung Milli Gazete, die Milli Görüs nahe steht, bezeichnete den Anschlag als „Heimzahlung“. Die Islamisten sehen darin die gerechte Strafe für die Weltmacht USA und ihre Vertreter im Nahen Osten, die Israelis. Andere verbreiten die Verschwörungstheorie, die Israelis hätten den Anschlag verübt – um die gesamte westliche Welt in den Kampf gegen den Islam hineinzuziehen. Jedenfalls finden Repräsentanten der islamistischen Szene nur selten ein Wort des Bedauerns, auch wenn sie sich von dem Anschlag distanzieren. Man sieht nicht, dass diese Katastrophe zur Besinnung führen muss, wenn es nicht zu einem Flächenbrand kommen soll. So kommt man weder zu einem Dialog noch zu einer multikulturellen Gesellschaft.

Was passiert, wenn es tatsächlich zu einem militärischen Gegenschlag der Nato kommt?

Die Radikalen können dann einer breiten Masse erklären: Der Westen ist genau so, wie wir ihn beschrieben haben. Die Europäer sind die Vasallen der USA, und deshalb sind sie Feinde des Islam. Bei den meisten Muslimen in Deutschland herrscht zwar die Vernunft vor. Aber bei den Leuten, die von diesen gefährlichen Ideologien beeinflusst sind, könnte es zu einer Radikalisierung vor allem junger Menschen kommen.

Auch wenn es nur wenige sind, die sich weiter radikalisieren: Wenn man sieht, was eine kleine Gruppe für eine Katastrophe ausgelöst hat, dann sind die Folgen unbeschreiblich. Potenzielle Täter können jetzt die Reaktionen des Westens genau analysieren – und auf Grund dieser Analyse in aller Ruhe die nächsten Ziele aussuchen.

Im Gegensatz zu den USA galt Deutschland bisher als araber- und islamfreundlich. Sollte es zu militärischen Gegenmaßnahmen kommen, wird Deutschland dann auch zum Feind erklärt?

So überspitzt würde ich das nicht sagen. Wir wissen aber noch nicht, wie die Amerikaner reagieren – und wie die überzeugten Islamisten einen solchen Gegenschlag aufgreifen. Seit ich die schrecklichen Bilder aus den Vereinigten Staaten gesehen habe, hat sich meine Meinung hinsichtlich der Gefährdung in Deutschland und Europa geändert. Auch kleinere Anschläge können schreckliche Auswirkungen haben.

Ich denke nur an den geplanten Anschlag von Bin-Laden-Anhängern auf das Straßburger Münster, der im Frühjahr noch rechtzeitig aufgedeckt werden konnte. Da ging es nicht um Frankreich, sondern um ein Symbol des verhassten Westens. Auch in Deutschland könnten diese Kleinstgruppen solche symbolischen Ziele auswählen.

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