: US-Börse eröffnet mit Verlusten
Nach Eröffnung der Wall Street sinken die Kurse innerhalb einer Stunde um fünf Prozent. Notenbank-Präsident Greenspan senkt die Zinsen, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Auch die Europäische Zentralbank reduziert Zinsen auf 3,75 Prozent
von DAVID SCHRAVEN (New York) und HANNES KOCH
Ein Feuerwehrmann, ein Polizist und ein Rettungssanitäter drücken gemeinsam auf einen grünen Knopf. Eine hektische Glocke plärrt. Kling-kling-kling: Gestern um 9.35 Uhr Ostküstenzeit hat die New Yorker Stock Exchange (NYSE), das Herz der Wall Street, die größte Börse der Welt, ihren Handel wieder aufgenommen.
Die Börsianer eilen zu den Tradespots, schauen auf Bildschirme. Ein Mann in einem blauen Jacket: „Fallen sie? Fallen sie?“ Die längste Handelsunterbrechung an der NYSE seit dem Schwarzen Freitag von 1929 ist zu Ende. Vier Arbeitstage wurde keine Aktie verkauft. Minuten vorher drängen sich auf der Bühne der NYSE ein gutes Dutzend Menschen. Darunter Senatorin Hillary Clinton und New Yorks Gouverneur George Pataki.
Der Vorstandvorsitzende der NYSE, Richard Grasso, hält eine kurze Ansprache. „Die Kriminellen, die dieses schändliche Verbrechen begangen haben. Sie haben verloren.“ Grasso ermahnt die Broker zu einem zweiminütigen Schweigen. Die Glocke schlägt einmal. Das Parkett erstarrt. Die Menschen blicken auf den Boden. Schließlich stimmt eine ordengeschmückte Sängerin „America the beautiful“ an. „Wir sind Amerika. Wir sind Helden“, ruft ein Börsianer.
Kurz bevor die US-Börsen wieder eröffneten, hatte Notenbank-Präsident Alan Greenspan zum achten Mal in diesem Jahr die Zinsen gesenkt, um die Wirtschaft mit billigerem Geld zu versorgen und den Kursverfall in Grenzen zu halten. Doch es half nichts: Die Kurse fielen. Und zwar in der ersten Stunde so stark, dass Händler von einem „Sell-off“, einem Ausverkauf sprachen. Der Standardwerte-Index Dow Jones verlor zeitweise mehr als 6 Prozent und rutschte unter 9.000 Punkte – was einen Tiefststand seit zweieinhalb Jahren markierte. Verkauft wurden besonders die Papiere von US-Fluggesellschaften wie Continental, deren Aktie zunächst die Hälfte ihres Wertes verlor. Aber auch Zulieferer Boeing war auf der Verliererseite. US-Präsident Bush berief noch für gestern Abend eine Sitzung ein, um der Flugbranche mit einem Notprogramm unter die Arme zu greifen. Die Aktien von Rüstungs- und Pharma-Unternehmen wurden dagegen gekauft, sodass deren Kurse stiegen. Nach den ersten Schocks konnten manche Aktien die Anfangsverluste aber zum Teil wieder gutmachen.
Als sich die Verluste an den US-Börsen abzeichneten, reagierte auch die Europäische Zentralbank. Sie reduzierte den Leitzins im Euroraum um 50 Basispunkte auf 3,75 Prozent. Die EZB begründete ihren Schritt damit, dass die Unsicherheiten für die Weltwirtschaft nach den Terroranschlägen vom vergangenen Dienstag zugenommen hätten.
Im Umkreis der US-Börse herrschte auch gestern noch der Ausnahmezustand. Einen Block entfernt ragen Stahlträger haushoch aus den Trümmern des zerstörten World Trade Centers. Die Luft schmeckt nach Dreck. In der Wall Street patrouillieren Nationalgardisten in Kampfanzügen. Vor dem Haupteingang der NYSE prangt eine strafraumgroße amerikanische Fahne. Polizei hat einen Checkpoint aufgebaut. Die Börsenarbeiter müssen Passierscheine vorweisen. Ein Mann hat keinen dabei. „Unsere Firma ist hin, wie kann ich da einen Passierschein von meinem Boss besorgen?“ – „Dann zeigen Sie mir eine Visitenkarte.“ Ein anderer muss seine Tasche aufmachen. „Wir suchen nach Waffen und Sprengstoff“, sagt ein Polizist. 4.500 Menschen arbeiten alleine an der Börse.
Bis in den frühen Morgen haben hunderte Arbeiter der beiden wichtigsten Telefongesellschaften Verizon und AT & T neue Kabel gelegt. Die Börse muss mit den Büros der Brokerfirmen verbunden werden. Angestellte des Stromversorgers Con Edison bauen Notversorgungen für die betroffenen Gebäude auf.
Als der Handel beginnt, steht New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani auf dem Parkett zwischen den Brokern. „Dies ist ein Tag, in dem wir in die Zukunft Amerikas blicken“, sagt er. „Wir sind wieder da.“
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