Die Welt ist eine Familie

Verschont von drohender Musikuntermalung und der Wiederholung der Bilder: Die Schaubühne am Lehniner Platz lud drei Wissenschaftler, über die Hintergründe der Terroranschläge in den USA, die Gefahr der Personalisierung des Konflikts zu reden

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Selten verkommt die Sprache so schnell zu Floskeln wie gegenüber dem Schock, der sich mit nichts vergleichen lässt. Worte zerkrümeln, noch bevor sie ausgesprochen sind. Dann nimmt die Beschwörung des Unfassbaren ihre Stelle ein.

Am Mittwochabend hatte die Schaubühne in ihren „Streitraum“ eingeladen, um „gegen die Beschwörung des Unfassbaren und Bösen darauf zu beharren, dass die Ereignisse zu verstehen sind“, wie der Moderator Matthias Greffrath das Gespräch einleitete. Als Experten hatten sich drei Wissenschaftler zur Verfügung gestellt, die sich nicht gerade leichten Herzens auch als Vertreter der jeweiligen Kulturkreise ansprechen ließen, aus denen sie gekommen sind. Ihren konzentrierten Vorträgen über Reaktionen in den USA und den islamischen Gesellschaften folgten die Zuhörer beinahe erleichtert, für ein paar Stunden verschont zu sein von drohender Musikuntermalung und der Wiederholung der Bilder. Hier war man nicht länger den eigenen Ängsten, Vorurteilen und einem plötzlich eklatant fühlbaren Nichtwissen ausgeliefert.

Navid Kermani, Autor, Dramaturg und Orientalist, beschrieb denn auch zuerst das erhöhte Kommunikationsbedürfnis am 11. September: Telefonate und E-Mails verbanden ihn mit Freunden und iranischen Verwandten in den USA, Indien und Ägypten und bisher unbekannte Nachbarn klingelten, um zu reden, an seiner Wohnungstür in Köln. Dies blieb, sicher auch als gemeinsame Wunschfantasie, das bestimmende Bild des Abends: dass sich neue Kommunikationswege öffnen und Allianzen bilden in der Abwehr des Terrorismus und der eindimensionalen Feindbilder, die ihn hervorgebracht haben.

„Entweder wir lernen zusammen zu leben oder zusammen zu sterben“, zitierte Greffrath in einem Prolog den amerikanischen Journalisten Stone, der vor zwanzig Jahren die Welt wie eine Familie ansprach. „Noch nie waren sich so viele muslimische Gesellschaften einig, dass es Grenzen gibt, wie jetzt“, meinte Navid Kermani. Demonstrationen des Mitgefühls mit den Amerikanern seien keine Selbstverständlichkeit in Ländern, in denen Antiamerikanismus seit Jahrzehnten zur Staatsdoktrin gehöre. Es würden sehr wohl Unterschiede gemacht zwischen dem Hass der Terroristen und einer Kritik an der amerikanischen Außenpolitik. Der Schock habe erstmals eine Bereitschaft ausgelöst, Feindbilder neu zu überdenken, und das sei eine große, wenn auch sehr empfindliche Chance. Auch Nathan Glazer, Soziologe von der Harvard University, stellte sich vor, dass jetzt die religiösen Führer, die die Anschläge verurteilen, beim Wort und in die Verantwortung zu nehmen wichtiger sei als die Arbeit der Geheimdienste. Ihm war es ein Anliegen, das Misstrauen europäischer Intellektueller in die amerikanische Vernunft abzuwehren. Mit Militärschlägen um sich zu hauen, so viel Unklugheit traut er seinem Land nicht zu. Seine Sorge galt dem Umgang mit dem Terrorismus und einer Personalisierung des Konflikts. Täter, selbst Hintermänner zu fassen, wäre keine Lösung, solange die Ursachen des Terrorismus nicht bearbeitet werden.

Auf dieser Ebene bewegte sich auch der Gewaltforscher Georg Elwert, Sozialanthropologe an der FU Berlin. Er beschrieb die Gewaltmärkte in vielen, nicht nur islamischen Staaten, die von der Politik fast aufgegeben oder vergessen worden sind. Er versuchte, die Informations- und Denkverbote zu beschreiben, die der Rekrutierung von Selbstmordattentätern vorausgehen. Ideologie- und Religionskritik greife zu kurz, um diese Konditionierung zu verstehen. Je mehr er von Morden in den eigenen Reihen, von Methoden der Geldbeschaffung, rechtsfreien Räumen und dem kalten Kapitalismus erzählte, desto finsterer sah die Zukunft aus. Nur einmal wich er von dieser Linie ab, für einen kurzen Blick zurück: 1914, meinte er, nannte man die Selbstmordattentäter noch „Helden“, wenn sie sich aus den Schützengräben als Anführer eines Stoßtrupps meldeten. Trauer und Betroffenheit zogen sich in diesem Gespräch hinter eine Atmosphäre der Sachlichkeit zurück – Gehen üben, nachdem es einem die Beine weggehauen hat. Der geografische und historische Raum weitete sich ständig in Richtungen aus, die in dem Bild der Welt, wie man es in unseren Massenmedien findet, kaum vertreten sind.

Von der Einseitigkeit ihrer Wahrnehmung erzählte Navid Kermani in einer einzigen Anekdote: Als er 1995 für die FAZ seine erste Reportage über einen Alltag im Iran schreiben wollte, der nicht nur von politischen Problemen bestimmt wird, ließ er nach Bildern von lachenden Menschen im Iran suchen. Kein einziges Fotoarchiv in Deutschland konnte eins finden – nur grimmig blickende Männer und verschleierte Frauen.