Ein politischer Kampf mit kulturellen Symbolen

Religionen können Gewalt gegen den anderen zwar nicht begründen, wohl aber in fanatisierter Form eine rechtfertigende und mobilisierende Rolle spielen. Schon die Kreuzzugritter benutzten das Christentum für Militanz und Intoleranz. Ein Beitrag zur Gewalt in internationalen Beziehungen

Auf die Gewaltstruktur des Nordens antworten zersplitterte Gewaltakte

Die Untat von New York brach auch in die hier vorherrschende Zivilität der Konfliktformen ein. Der Terror kann nicht aus unserer Welt stammen. Er kommt von außen, begründet einen „reinigenden“ Feldzug gegen das Böse und lässt die sich bedroht wähnende „Zivilgesellschaft“ einmütiger denn je agieren. Nicht zufällig klingen hier Kreuzzugsgedanken an: die Welt von den Störern des westlichen Normengefüges zu befreien.

Aus dem Schatten der internationalen Politik, welche die freien ökonomischen und nun eben auch freie politische Akteure hervorbringt, hat ein Terrorkommando zugeschlagen, das durchaus von westlichen Eltern zu sein scheint. Es handelte gemäß den zeitgenössischen pluralen Prinzipien, die Gewaltimpulse diffuser und privater zu organisieren als in ihrer klassischen staatlichen Form. Die Bedrohung ist real, aber eben auch imaginiert und verführt die Supermacht zu freihändigen „Vergeltungsschlägen“ gegen einen noch gar nicht ermittelten Gegner. Kränkung wird so in Aggression überführt, Trauer in Zorn.

Damit wird vielleicht Botmäßigkeit erreicht, die hinter dem Anschlag aufscheinenden internationalen Konflikte aber werden verdrängt und damit der politischen Behandlung entzogen. In der Dichotomisierung von Gut und Böse, Draußen und Drinnen verschwindet die eigene innere und äußere Gewalthaltigkeit, die unsere Zivilisation kennzeichnet. Immerhin hat sie Auschwitz und Hiroschima hervorgebracht und leistet sich eine höchst ungerechte wirtschaftliche Weltordnung. Sie überzieht die Welt mit ihren Werten und Lebensformen und droht, sie ökologisch zugrunde zu richten. Ist dies der Boden, der eine selbstgerechte Vergeltung zu rechtfertigen vermag? Unsere Zivilisation ist selbst aus Gewalt entstanden und stützt sich auf sie. War nicht die Begegnung mit außereuropäischen Kulturen, die von ihr gesucht wurde, alles andere als dialogbereit?

Von einer interkulturellen Konflikt- und Gewalthaftigkeit ist schon lange die Rede. Sie wurde geschichtlich reichlich praktiziert, gerade vom Westen. So stellten schon die Kreuzzüge, die Ketzer- und Hexenverfolgung sowie die Eroberung der Neuen Welt interessengeleitete Feldzüge gegen das kulturell und politisch andere dar. Vor diesem Hintergrund läutet das Gerede vom Zusammenstoß der Kulturen möglicherweise eine weitere Runde des westlichen Kulturimperialismus ein.

Der Terroranschlag von New York bediente sich westlicher technischer und kommunikativer Mittel. Der Stein, den sie erhoben, fällt auf sie zurück, und zwar als so barbarischer wie schier verzweifelter Akt, dessen Urheber sich möglicherweise als Vollstrecker historischer Gerechtigkeit wähnen. Nach dem Scheitern der antikolonialen Befreiungskriege in der „Dritten Welt“ wäre der anarchistische Terrorismus seine heruntergekommene Fortsetzung, die nur noch auf Symptome einzuschlagen vermag – insofern eher ein Anzeichen von Schwäche als einer mächtigen Verschwörung gegen den Westen. Was geht in Menschen vor sich, die sich selbst in die Luft sprengen und hunderte zufälliger Opfer dazu? Liegt in einer solch serial-gleichgültigen Vernichtung nicht ein Menetekel, das auf das Zentrum der Zivilisation weist wie an seinen Rand? Auf die apparativ-rationale Gewaltstruktur des europäisch-nordamerikanischen Nordens antworten eher situativ kleinräumige und zersplitterte Gewaltakte des Südens. Nachdem der Staatssozialismus als „Reich des Bösen“ abgedankt hat, tritt nun die „islamische Welt“ als in die Schranken zu weisender Gegner auf.

Auch das hat historische Vorläufer im jahrhundertelangen Kampf gegen die muslimische Bedrohung. Diese endete mit dem Sieg des Westens sowie der Abhängigkeit und Rückständigkeit der arabischen Länder. Der dort in neuester Zeit aufgekommene Fundamatalismus ist als Reaktion auf die westliche Modernisierung und die damit verbundenen sozialen und ökonomischen Folgen entstanden. Die gewaltbereiten islamistischen Gruppierungen, die für den Anschlag von New York verantwortlich sein sollen, stellen eine extremistische Ausuferung der Reislamisierung dar. Trotz ihrer taktischen Militanz sind sie strategisch eher defensiv, ja hilflos, da ihre formativen und politischen Akte zwar tödlichen Staub aufwirbeln, aber die Gezeiten der Geschichte nicht zu wandeln vermögen. Denn diese markieren ein ökonomisches und militärisches Übergewicht des Westens, das nur durch internationale politische Allianzen wenigstens eingedämmt werden kann.

Die islamisch-arabische und die christlich-abendländische Kultur sind sich verwandter, als ihre jeweiligen fundamentalistischen Interpreten dies wahrhaben wollen. Schon religiös sind sie den Werten der Toleranz und Menschlichkeit verpflichtet. Und der Satz Arthur Millers: „Haftet an keinem Glauben, wenn der Glauben Blut mit sich bringt“, gilt beiden gleich viel. So können die Religionen und ihre säkularen Ausläufer Gewalt gegen den anderen zwar nicht begründen, wohl aber in mehr oder minder fanatisierter Form eine rechtfertigende und mobilisierende Rolle in sozialen und politischen Konflikten spielen. Auch die Kreuzzügler nahmen das Christentum für ihre Interessen in Dienst und rechtfertigten damit Intoleranz und Gewalt.

Sollte die drohende Weiterdrehung der Gewaltspirale die Szene beherrschen, wird nicht das Fremde überwältigt, sondern die Akteure vom beklemmend Fremden der Gewalt. Die Untaten der anderen sind immer auch eine Spiegelung der eigenen und fordern zu ihrer Untersuchung und Aufhebung auf – überall. GERHARD ARMANSKI

Der Autor ist Sozialwissenschaftler. Letzte Veröffentlichung: „Der gemeine Unfrieden der Kulturen. Europäische Gewaltgeschichte“. Königshausen und Neumann, Würzburg 2001, 42 Seiten, 48 DM