Liebe deinen Intoleranten

Mehr Differenz: Michael Walzer schlägt in seiner Stellungnahme zu den Terroranschlägen in den USA vor, eher die Identität gemäßigter islamischer Gruppierungen zu stärken als Assimilation zu fordern

von DAVID LAUER

Die letzten weißen Flecken im Meinungsatlas sind so gut wie getilgt. Drei Wochen nach den Terroranschlägen in den USA haben praktisch all jene, von denen man es erwartete, in braver Erfüllung der ersten Intellektuellenpflicht ihre Gedanken zur Lage der Welt vorgelegt. Einer reagierte besonders schnell: Michael Walzer, der als Cheftheoretiker einer liberalen amerikanischen Linken gelten darf, veröffentlichte schon am Tag danach eine Stellungnahme auf der Internetseite der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Dissent (www.dissentmagazine.org).

Dieser kurze Text liest sich heute wie ein Abstract der Debatten der letzten Wochen, hat sie aber in Wirklichkeit geradezu prophetisch vorweggenommen. Walzers Überlegungen zu einer angemessenen amerikanischen Reaktion auf den Terror klingen, als hätte die Bush-Administration sie als Spickzettel benutzt.

Besonders interessant ist, dass Walzer die innenpolitische Dimension der Anschläge bereits zu einem Zeitpunkt berücksichtigt hat, zu dem der Westen noch nicht mit der verstörenden Erkenntnis leben musste, dass die Anschläge auf seine Zivilisation nicht aus einem barbarischen Off, sondern aus deren Mitte geplant wurden. Walzer teilt die Deutung der Anschläge als Attentate religiöser Traditionalisten auf westliche Liberalität und Toleranz, doch inzwischen haben wir den Feind gesehen, und er ist wie wir.

Seither wird die zunächst vorherrschende Frage, wie der Westen sich zu Terrorregimes in abgelegenen Teilen der Welt verhält, von der Frage ergänzt, wie er mit der Differenz in seiner eigenen Mitte umgeht. Das aber ist eine Frage, mit der gerade Michael Walzer sich immer wieder beschäftigt hat. Grund genug, in dieser Situation seinen Essay „Über Toleranz. Von der Zivilisierung der Differenz“ (Rotbuch Verlag Hamburg, 1998, 28 Mark) einer Relektüre zu unterziehen. Müssen, ja dürfen die, die tolerant sein wollen, auch die Intoleranten unter sich tolerieren?

Sie müssen, sagt Walzer. Tolerant ist, wer friedlich mit einem Anderssein zusammenlebt, das ihm fremd erscheint. Resignierte Duldung ist eine Form der Toleranz ebenso wie multikultureller Enthusiasmus. Durch die verschiedenen historischen Arrangements toleranten Zusammenlebens, die Walzer beschreibt, zieht sich jedoch eine zentrale Differenz, der Widerstreit von kollektiver und individueller Emanzipation. Multinationale Imperien wie das Römische Reich tendieren z. B. dazu, sich nur tolerant gegenüber Kollektiven zu verhalten, denen z. B. eine religiöse Gerichtsbarkeit eingeräumt wird. Um die Intoleranz, die innerhalb dieser Kollektive herrscht, kümmert sich das Imperium nicht. Die liberale Demokratie hingegen setzt das Individuum über alles Ständische, sie fordert von religiösen und anderen Kollektiven Toleranz gegenüber der Freiheit des Einzelnen.

Doch so einfach ist das natürlich nicht. Zur individuellen Freiheit gehört auch die Freiheit, sich einer bestimmten Religion oder Volksgruppe zugehörig zu fühlen. Die liberale Achtung vor der Freiheit der BürgerInnen gebietet daher Toleranz gegenüber den Gruppierungen, denen diese sich anzuschließen wünschen, selbst wenn die Gruppierungen selbst intolerant sind. Dadurch entstehen Kollisionen von Toleranz und Liberalität: Der liberale Staat kann tolerieren, dass muslimische Eltern ihre Töchter von Klassenfahrten fern halten, aber nicht Klitorisbeschneidung und Polygamie. Moderne Gesellschaften sind daher gezwungen zu einer „Politik der Differenz“, einem permanenten Verhandeln über die Rechte der Gruppe und die des Individuums.

Im Zuge dieser Verhandlungen kommt es fast zwangsläufig zu einer „postmodernen“ Fragmentierung und Verwischung von Identitäten. Wir sind, so Walzer mit unübertrefflicher Lakonie, immer noch „dieses oder jenes“, aber eben auch „dies und das“. Diese Situation jedoch hält er für zutiefst ambivalent, da sie als bedrohlich empfunden werden kann und dann jenen intoleranten und gewalttätigen Traditionalismus nährt, der die Welt derzeit in Atem hält. Eine mögliche Folgerung wäre, in dieser Lage von religiösen und ethnischen Minderheiten nicht verstärkte Assimilation zu fordern, sondern sogar ein Mehr an Differenz zu tolerieren. Die Stärkung der Identität gemäßigter islamischer Gruppierungen könnte das Mittel sein, ihren aggressiven und restaurativen Auswüchsen den Nährboden entziehen. Liberalität erfordert Toleranz – und hat sie doch gleichzeitig in Schach zu halten. Zwar müssen auch die Intoleranten reden dürfen, doch Liberalität bedeutet auch zu verhindern, dass sie jemals die Macht im Staate ergreifen oder ihre Nachbarn umbringen können. Hier endet jede Möglichkeit für Toleranz – spätestens beim terroristischen Massenmord, dessen Apologie als angeblich letzten Ausweg der Entrechteten Walzer im Internet brüsk zurückweist.

Leider sichert keine Formel den wackligen Zaun zwischen dem, was toleriert, und dem, was nicht mehr toleriert werden kann. Walzer verschwendet denn auch keine Zeit an die Suche nach unhintergehbaren Vernunftgründen, sondern zeichnet geduldig eine komplizierte politische Landkarte. Durch das Terrain, das sie zeigt, führen keine sicheren Straßen, nur schmale Gebirgspfade. Es bleibt, vorsichtig bergauf zu kraxeln. Oder sich an Ort und Stelle einzumauern.