Der Postkolonialismus der Multi-Identitäten

Die Welt ist nicht genug (Schluss): Neue Kunst-Biennalen wie in Berlin oder Yokohama sind nicht zufällig parallel zum Fortschreiten des ökonomischen Globalismus in den letzten zehn Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen. Sie sind die Instrumente, die den globalen Kapitalismus kulturell veredeln

■ Seattle, Tokio, Göteborg und Genua – die Weltordnung der „New Economy“ wird nicht länger als Chefsache akzeptiert. Mit der Wahrnehmung sozialer Ungerechtigkeit wächst auch der Widerstand. Wie aber sehen die Kritiker der Globalisierung aus? Was treibt sie an? Und welche Kultur entsteht aus dem neuen Protest?

von MARIUS BABIAS

Darf man den Verfechtern des Neoliberalismus Glauben schenken, so bringt die Globalisierung das ökonomische und kulturelle Ungleichgewicht zwischen der Ersten und der Dritten Welt zum Verschwinden, indem sie einen Weltmarkt ohne Grenzen schafft, worin die Nationalökonomien ebenso wie die Weltkulturen prosperieren würden. Tatsächlich aber sind im akuten Globalisierungsprozess, der mit dem Fall der Mauer einsetzte, eine Reihe von Konfliktlinien aufgetaucht, die das Gegenteil nahe legen: Unsere Seh- und Betrachtungsweisen so genannter fremder Kulturen werden mehr denn je von Postkolonialismus, Rassismus und Nationalismus geformt.

Die unheilvolle Geschichte der Kulturideologie ist das Marschgepäck der Globalisierung. In postkolonialen Diskursen für überwunden erklärte Konstruktionselemente des „Anderen“ und des „Fremden“ sind in eine neue Ideologie des kulturellen Globalismus eingegangen, wo sie neue Formen einer Kulturideologie hervorbringen, zu deren symbolischer Beseitigung man paradoxerweise diverse Foren von Völkerverständigung und Kulturaustausch – insbesondere Biennalen – eingerichtet hatte. Wenn man so will, sind Kunst-Biennalen, die nicht zufällig parallel zum Fortschreiten des ökonomischen Globalismus in den letzten zehn Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen, genau die Instrumente, die ihn kulturell veredeln.

Konsens von Washington

Drei Milliarden Menschen, das ist die Hälfte der Weltbevölkerung, leben von weniger als 2 Dollar pro Tag und Kopf. Die Auslagerung der Produktion in den Trikont zu Hungerlöhnen mag die Profitabschöpfung von Lifestyle-Unternehmen wie Nike oder Reebok erhöht haben, vor Ort jedenfalls in Malaysia, Indonesien oder Indien wurde zugleich das soziale Elend verlängert. Die Produktionskosten des „Pegasus“ von Nike beispielsweise belaufen sich auf 1,66 Dollar, während der Verkaufspreis bei circa 70 US-Dollar liegt.

Die Imagination vom Weltmarkt ohne Grenzen hat einen zutiefst imperialistischen Kern, wie Noam Chomsky am Beispiel der USA und ihrer ökonomischen Entwicklung Brasiliens und Mexikos beschrieben hat. Die Grundsätze der neoliberalen Ordnung, niedergelegt im „Konsens von Washington“ – also Liberalisierung von Handel und Finanzen, Preisregulierung über den Markt, Eindämmung der Inflation und Privatisierung –, sind identisch mit der offiziellen US-Regierungspolitik, die von jeher darauf hinausläuft, „amerikanische Werte zu exportieren“. Die USA, die sich nach Chomsky in eine Marktdemokratie verwandelt hätten, haben die Wahrung dieser Marktprinzipien, die mit US-amerikanisch kontrollierten Einrichtungen wie IWF, Weltbank und WTO durchgesetzt werden, geradezu zum politischen Regierungsauftrag erklärt. So werden den Ländern des Südens, die mit insgesamt rund 2 Billionen – das sind 2.000 Milliarden – US- Dollar bei Industriestaaten, privaten Kreditinstituten und Weltbank in der Kreide stehen, die wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen diktiert.

In einem Weltmarkt ohne Grenzen ergeben sich für den Import und Export „fremder“ Kulturen dramatische Veränderungen. Die kulturellen Aktivitäten, Initiativen und Organisationen, ob staatlich, korporativ oder privat, stehen ebenso wie Finanzmarkt, Warenproduktion und -tausch unter der Hegemonie der bürgerlichen Demokratien und deren politischen Ökonomien.

Der in den Neunzigerjahren rasch angestiegene Stellenwert der Kultur als Standortfaktor der um Investitionen buhlenden Global Citys setzte die metropolitanen, unabhängigen Szenen und künstlerischen Milieus stark unter Druck, die im Versuch des Durchbrechens ihrer politischen und künstlerischen Isolation neue Lebensentwürfe und Karrierestrategien hervorbrachten, die von den unter Legitimations- und Repräsentationszwang stehenden Institutionen wiederum dankbar aufgegriffen wurden. In diesem Verwertungskreislauf werden die kulturell aufgeladenen Prozesse politischer Legitimität sichtbar.

Berlin Biennale, Kwanju Biennale oder Yokohama Triennale sind Bausteine des Stadt-Marketings oder – wie die Münsterland Biennale – der regionalen Entwicklung. Die etwas intelligentere, aber deshalb nicht minder problematische Gegenstrategie zu Kultur-Events ist das Thematisieren des sozialen Elends. Ein Großteil „kritischer Kunst“ wird von Institutionen regelrecht in Auftrag gegeben, etwa für den österreichischen Pavillon während der Biennale Venedig 1999 unter dem Motto „Offene Handlungsfelder“. Es gilt die Faustregel: Je dekorativer die Darbietung der sozialen Konfliktstoffe (besonders beliebt sind derzeit Urbanität und postkoloniale Identitätskonstruktion), desto größer die Chance auf eine Teilnahme an einer Weltausstellung oder einer Biennale.

Wie sind die gegenwärtigen, postkolonialen Formen des Rassismus beschaffen? Wie hängen sie mit dem ökonomischen Globalismus zusammen? Gibt es eine zwingende innere Beziehung zwischen ökonomischer Herrschaft und sozialer Unterdrückung?

Rassismus, hier folge ich Theodore W. Allens Definition, ist kein psycho-kulturelles Phänomen, das die unmittelbare Folge bereits bestehender, vorkolonialer Einstellungen der Eroberer ist, sondern Ausdruck ökonomischer Rationalität und politischer Herrschaft. Die herrschende Klasse oder imperial-nationale Großmacht, so Allen, bedient sich rassistischer Unterdrückung, um bestimmte soziale Gruppen dauerhaft aus dem gesellschaftlichen Leben auszuschließen. Rassismus, historisch übrigens eine explizite Erfindung der Engländer, um Irland zu unterwerfen, bedient sich des Konzepts des „sozialen Todes“.

Der „soziale Tod“ ist die Voraussetzung für rassistische Herrschaft. Theodore W. Allen hat in seiner Untersuchung der Kolonisierung der Afrikaner, der Indianer und der Iren folgenden Mechanismus analysiert: Sobald die Eroberer auf Prinzipien der Stammes- und Verwandtschaftsverbände treffen, etablieren sie ein Herrschaftssystem, das darauf aus ist, diese Stammes- und Verwandtschaftsverbände zu leugnen, zu übergehen und schließlich ganz außer Kraft zu setzen.

Obwohl aus dem politischen Leben verschwunden, ist die Herrschaft der Eroberer auf die im Land verbliebenen Wirtschaftsunternehmen übergegangen, die mit den Mutterkonzernen der ehemaligen Kolonisten politisch und kulturell verbunden sind: Öl-Companys, Bergbau-Unternehmen, Großgrund- und Plantagenbesitzer.

Welche Konsequenzen ziehen Kunst und Kultur aus dem Antagonismus zwischen Herrschaft und Unterdrückung? In der optimistischen Variante, wie sie Edward Said vorschlägt, haben Imperialismus und Rassismus die Widerstandskräfte der Unterdrückten hervorgerufen und Prozesse kultureller Selbstbehauptung und postnationaler Identität in Gang gebracht. Der Widerstand gegen die weißen Eroberer gewann schließlich die Oberhand, so Said. Auf die aktuelle Entwicklung der Kunst bezogen, könnte man KünstlerInnen wie David Lamelas, Helio Oiticica oder in der jüngeren Generation Mona Hatoum und Shirin Neshat als positive Beispiele des Abwehrens eines westlichen kulturellen Einflussmodells anführen, die auf Grund ihrer Erfahrungen von Exil und Migration die Ideologie des Nationalstaates sowie die trügerische Vorstellung von der Universalität ästhetischer Sprachen überwunden und postnationale Identitäten formuliert haben.

Allen sieht das nicht so optimistisch: Zwar lassen sich aus dem gesellschaftlichen Wiederaufbau nach dem neuen Ordnungsprinzip der Eroberer zugleich Widerstandformen ableiten; so zunächst durch die Privilegierung und Einbeziehung von Teilen der unterdrückten Bevölkerung in den Herrschaftsapparat, sobald die herrschende Macht in Gefahr gerät. Ob Haiti, die Westindischen Inseln oder die Politik der katholischen Emanzipation und die Union mit Großbritannien in Irland, das Ergebnis bleibt dasselbe: Die Kolonialmacht festigt ihre Herrschaft durch Einbindung. Migrantenkinder der zweiten und dritten Generation in Paris, London, Los Angeles oder Berlin produzieren ein kulturelles „Dazwischen“ und geben der globalisierten Welt ein freundliches, buntes, friedvolles Gesicht. An der Doppelstrategie von Migranten-KünstlerInnen, nämlich postkoloniale Identitäts- und Subjektmodelle sozusagen in der Höhle des Löwen zu formulieren, kann man kritisieren, dass sie sich geradezu perfekt für die Selbstdarstellung der Globalisierungsideologie eignet. Migranten-KünstlerInnen haben als Lieblinge der Weltkunst mittlerweile ein Dauerbonnement in Großausstellungen und Biennalen.

An welchen Prozessen – ob kulturelle Integration oder kulturell legitimierte ökonomische Segregation – die weltweiten Foren des Kulturaustauschs zwischen dem Norden und dem Süden mitwirken, ob sie nun den Antagonismus zwischen Herrschaft und Unterdrückung ästhetisch überblenden oder ob sie die kulturelle Selbstbehauptung der Unterdrückten und Armen tatsächlich stärken, bleibt trotz der eher pessimistischen Situationbeschreibung eine offene Frage. Selbst der lokale Wert – in den Siebzigern eine sinnvolle geopolitische Kategorie der Unterscheidung – spielt heute nur noch eine untergeordnete Rolle. Biennalen in Südafrika, Afrika, in Asien oder Australien – und Biennalen, die in den Metropolen der führenden Industriestaaten stattfinden, also in Berlin, Venedig, Lyon, oder die Triennale in Yokohama nähern sich organisatorisch an, indem erstens westliche Kuratoren und Ausstellungskommissare quer über die Kontinente rotieren und zweitens die reichen Industriestaaten und ihre vielfältigen Förderungsinstanzen die Finanzierung der Länderpavillons übernehmen.

Ökonomie der Weltkunst

Man muss die Frage stellen, ob Biennalen ein Instrument der apostrophierten Weltkunst im Zeitalter der Globalisierung sind, sie das „Andere“, das „Fremde“ nicht deshalb zum Coming-out animieren, um es in einer globalisierten kulturellen Ökonomie als Selbstbehauptungsgeste gefügig und als Ware konsumierbar zu machen.

Den Antagonismus zwischen dem ökonomischen Globalismus des Nordens und der kulturellen Selbstbehauptung des Südens nicht an die Peripherie zu delegieren, sondern in den Industriestaaten selbst als systemischen Widerspruch aufgehen zu lassen, ist ein mehr denn je uneingelöster Anspruch. Stattdessen erleben wir inszenierte Kommunikationen. In der Organisierungsform von Biennalen ist der kulturideologische Nukleus des Globalismus evident. Wo solche Ausstellungen die historischen und gegenwärtigen Konfliktlinien als Ornamente von Herrschaft, Unterdrückung und Verdrängung inszenieren, verlängern sie auch die Grundprinzipien des Kulturalismus.

Marius Babias ist Leiter Kommunikation der Kokerei Zollverein | Zeitgenössische Kunst und Kritik, Essen. Gerade erschien sein Buch „Ich war dabei, als ... Interviews 1990–2000“, Revolver Verlag, Frankfurt/Main, 300 Seiten, 48 DM