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Lernen statt surfen

Zwei Bücher entdecken das Erziehungselend und restaurieren die Werte des Bildungsbürgertums

Das Thema Kinder geht ans Herz – und ist gleichzeitig zentral für die Politik. Deswegen sind die beiden neuen Bücher zum Thema interessant, die durch den Blick auf Kinder das herrschende Wertesystem in Frage stellen, ja laut Alarm schlagen. Das AutorInnenduo Petra Gerster und Christian Nürnberger konstatiert den „Erziehungsnotstand“, die Autorin Susanne Gaschke beklagt gar eine „Erziehungskatastrophe“.

Die Diagnose weder neu noch originell: Kinder von heute werden zwar mit Spielzeug und Markenklamotten verwöhnt, kennen aber zu wenig Grenzen und sind innerlich verwahrlost. Eltern haben kaum Zeit. Fernsehen und Computerspiele rauben den Kindern Fantasie und Wirklichkeitsempfinden. Zudem können die Schulen keine wirkliche Bildung mehr vermitteln, zu der eben auch charakterliche Formung und Erfahrung von Grenzen und Verzicht gehören. Genau, genau! mögen da viele rufen. Doch was machen wir jetzt?

Hier setzt die Erziehungs- beziehungsweise Kulturkritik von Gerster/Nürnberger an, und die ist relativ aktuell. Während man früher vor allem die Warenwirtschaft mit ihrem Konsumterror beklagte, der unsere Kinder angeblich versaut, richtet sich die Kritik heute eher gegen die Ökonomisierung von Wissenserwerb und die Allgegenwart der elektronischen Medien. Das AutorInnenduo warnt vor der Überschätzung der „unstrukturierten Datenhaufen“ im Internet und verwahrt sich dagegen, dass Bildung heute „für die Zwecke der Wirtschaft oder des Staates“ instrumentalisiert werden soll.

Auf der Suche nach Lösungen aktivieren Gerster/Nürnberger alte humanistische Bildungsideale, bei denen „ethische Werte“ über ökonomischen stehen müssten. Bildung müsse dazu dienen, den eigenen „Egozentrismus“ hinter sich lassen und die Welt auch mit den Augen des andern sehen zu können. Das Lesen von Büchern bleibt wertvoller als das planlose Internetsurfen, Erzieherinnen in Kitas und Lehrer müssten auch Vorbilder sein und nicht nur Betreuer.

Damit setzen Gerster/Nürnberger der allgemeinen Verunsicherung durch die Informationsgesellschaft alte Normen des Bildungsbürgertums entgegen. Die Botschaft dürfte gut ankommen, nicht zuletzt deswegen, weil Gerster im Hauptberuf ZDF-Nachrichtensprecherin ist – und Fernsehleuten glauben viele Menschen so einiges.

Auch Susanne Gaschke, im Hauptberuf Redakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, kritisiert den Verfall der „Bildung“, die heute jegliche Charakterformung außer Acht ließe. Dann aber nimmt Gaschke die scharfe Kurve nach rechts. Die „Diffus-68er“ mit ihrer vermeintlichen Kumpelpädagogik und deren „Spätschäden“ seien mit schuld am Elend, klagt die Autorin. Die Dauerreform an Schulen mit ihren „Kuschelecken“ habe zu einer „Erosion des Basiswissens“ geführt. Viele Eltern wollten nicht erwachsen werden und zu ihrer Erziehungsaufgabe stehen, glaubt Gaschke.

Manche Eltern, die das lesen, dürften sich wohl am Kopf kratzen: Auf die Idee, die Grenzenlosigkeit vieler Kinder heute nun auch noch „den 68ern“ in die Schuhe zu schieben, muss man erst mal kommen. Gaschke wollte mit dieser Schuldzuweisung wohl provozieren – aber das Vorhaben ist zu durchsichtig.

Bleibt immer noch die Frage der Eltern, Lehrer und Politiker: Was ist zu tun? Mehr männliche Erzieher und Lehrer in Kindergärten und Grundschulen sollen her, um auch für Jungs Vorbilder bieten zu können, schlagen Gerster/Nürnberger vor. Engagierte Lehrer müssten Leistungsprämien bekommen. Jeder Schüler solle einen „Bildungsscheck“ erhalten, mit dem er sich dann die Bildungsanstalt seiner Wahl – auch eine Privatschule – aussuchen könne. Die Schulen müssten mehr Gestaltungsfreiheit bekommen.

Die Reformvorschläge mögen interessant sein, bedeutsamer ist, was die beiden Bücher aussparen: den Einfluss von Schicht und Klasse auf das vermeintliche Erziehungselend. Dabei entscheidet die jeweilige Aufstiegshoffnung der Eltern sehr wohl über die häuslichen Bildungsanstrengungen, die Kindern zuteil werden. Eltern aus der Mittelschicht schicken ihren Nachwuchs eher zum Klavierunterricht und teilweise sogar wieder auf humanistische Gymnasien, Eltern aus der Unterschicht lassen ihre Kinder viel fernsehen und brutale Spiele am Computer spielen. Die Erziehungskritik von Gerster/Nürnberger und die Polemik von Gaschke gehen auf diese Hintergründe nicht mehr ein. Auch damit liegen sie im Trend. BARBARA DRIBBUSCH

Petra Gerster/Christian Nürnberger: „Der Erziehungsnotstand“. Rowohlt, Berlin 2001, 280 Seiten, 39,90 DM (19,90 €)Susanne Gaschke: „Die Erziehungskatastrophe“, DVA, Stuttgart/München 2001, 300 Seiten, 39,80 DM (19,90 €)

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