: Gesprächsbereit mit Hintersinn
Moderate Töne zwischen Pakistan und Indien: Präsident Muscharraf versucht den Kaschmir-Konflikt vorerst von der Tagesordnung zu nehmen
aus Delhi BERNARD IMHASLY
In seiner Fernsehansprache vom 19. September, in der Pakistans Präsident Pervez Muscharraf seinem Volk den Beitritt zur Anti-Terror-Allianz glaubhaft machen wollte, war Kaschmir sein wichtigstes Argument. Ein abseits Stehen Pakistans würde die USA in die Arme Indiens treiben, sagte er. Kaschmir und Afghanistan würden dann als Terrornester in einen Topf geworfen. Indiens Versuch, sich in eine langfristige Afghanistan-Lösung einzubringen, quittierte Muscharraf mit einem knappen „Lay off!“ – Halt dich raus!
Der Wind hat sich gedreht. Zwei Wochen später, kurz nach Beginn der ersten Luftschläge gegen Afghanistan, telefonierte Muscharraf mit dem indischen Premierminister A. B. Vajpayee und lud ihn nach Islamabad ein. Es sei wichtig, sagte er, dass die gegenwärtige Krise nicht durch eine erhöhte Spannung zwischen den Nachbarn zusätzlich kompliziert werde. Der Dialog müsse wieder geführt werden.
Attentat verurteilt
Vajpayee reagierte auf die Einladung mit der grundsätzlichen Bereitschaft zur Verbesserung der Atmosphäre. Er brachte aber rasch den „Terror-Akt“ zur Sprache, bei dem am 1. Oktober in Srinagar 38 Menschen getötet worden waren und ließ durchblicken, dass er Pakistan dafür verantwortlich machte. Er setzte hinzu, der Dialog bleine blockiert, solange Pakistan auf seiner Haltung zum Kaschmir-Konflikt bestehe. Muscharraf soll darauf Vajpayee versichert haben, dass Pakistan Akte wie den Selbstmordangriff verurteile.
Bereits einige Tage vorher hatte der Regierungssprecher den Anschlag als „Terror-Akt“ gebrandmarkt. Es war das erste Mal, dass Pakistan den Übergriff einer militanten Gruppe in Kaschmir so bezeichnete. Für Islamabad operieren in Indien „Freiheitskämpfer“, die für das von der UNO verbriefte Selbstbestimmungsrecht von Kaschmir streiten. Doch Muscharraf ist sich der Risiken bewusst, die von einem offen feindseligen Indien ausgehen. Das Selbstbestimmungsrecht der Kaschmirer ist in den Augen der Weltöffentlichkeit noch weniger stark verwurzelt als etwa jenes der Palästinenser. Für viele Leute im Westen sind Muscharrafs Kämpfer denn auch nichts als Terroristen. Genauso wie Indien sich legitimiert sieht, die Parallelen zwischen New York und Kaschmir als Folgen des gleichen globalen Phänomens zu betrachten, muss Muscharraf versuchen, Kaschmir vorläufig aus dem Schussfeld zu nehmen, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, er verurteile den Terrorismus in den USA, pflege ihn aber vor seiner Haustür.
Indien sieht die schwierige Situation, in der sich Muscharraf befindet. Nachdem er bereits die Taliban hat fallen lassen, kann er nicht in Kaschmir das gleiche tun, will er politisch überleben. Selbstmordanschläge wie jener in Srinagar machen ihn aber für die internationale Allianz zu einem unzuverlässigen Partner.
Delhi scheint sich nicht klar zu sein, wie es reagieren soll: Soll es Muscharraf gegenüber den radikalen Islamisten den Rücken stärken, wie dies die USA und Europa tun? Oder soll es ihn zwingen, die Maske des Gemäßigten abzulegen und das „wahre“ Gesicht des Hardliners zu zeigen? Dies könnte man mit Kommando-Aktionen gegen Ausbildungslager jenseits der Grenze tun, wie es der Regierungschef von Jammu-Kaschmir bereits fordert.
Fragen an die USA
Vertreter der indischen Regierungspartei BJP beginnen denn auch zu fragen, warum die USA Terror-Nester in Afghanistan ausheben dürfen, nicht aber Indien, das vom Terrorismus viel stärker betroffen sei als die USA. Kommentare selbst liberaler Zeitungen sprechen davon, dass wenn nicht Luftschläge auf pakistanisches Territorium, so doch die Bereitschaft bestehen sollte, Vertreter des bewaffneten Widerstands im Nachbarland durch Geheimaktionen aus der Welt zu schaffen.
Muscharrafs Angebot an Vajpayee zu einer Wiederaufnahme des Dialogs, kann als Appell an den Gegner verstanden werden, seinen denkbar kleinen politischen Spielraum nicht noch zu verringern. Indiens Reaktion scheint nun zu zeigen, dass es dieser Version Glauben schenkt, wohl auch weil es weiß, dass ein erneuter Putsch in Pakistan mit Sicherheit einen militärisch-religiösen Hardliner an die Macht brächte – mit unabsehbaren Folgen für die Anti-Terror-Kampagne. Das ist jedenfalls die Interpretation der Medien. Dazu gehört auch das Angebot Delhis, Hilfsgüter für afghanische Flüchtlinge in Pakistan bereitzustellen. Es wird auch erwartet, dass Indien in den nächsten Tagen „Grundregeln“ für eine Annäherung formulieren wird.
Zweifellos haben die USA und ihre Partner das Ihre getan, um die leicht entflammbaren Beziehungen zwischen den beiden Nachbarn im unmittelbaren geographischen und zeitlichen Umfeld der Afghanistan-Kampagne zu beruhigen. Bereits Premierminister Tony Blair hatte bei seiner kurzen Front-Visite in Islamabad vor Wochenfrist einen Abstecher nach Delhi eingelegt, um die Wogen zu glätten. Ihm folgt in den nächsten Tagen US-Staatssekretär Colin Powell, und Ende Oktober kommt Bundeskanzler Schröder nach Delhi.
Washington ist sich bewusst, dass ein Stillhalten Delhis für die Stabilität Pakistans in der Allianz mitentscheidend ist. Das wird es allerdings nur erkaufen können, wenn es Indien verspricht, die militante Kaschmir-Bewegung später genauer unter die Lupe zu nehmen. Auch Pakistan muss sich dabei nicht nur als Verlierer sehen. Je mehr sich nämlich Indien als Opfer des globalen Terrorismus in die internationale Kampagne einordnet, desto größer sind die Chancen für Islamabad, die Kaschmir-Frage endlich zu internationalisieren.
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