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Trainingsplatz des feinen Blicks

Wer nach Berlin geht, wer die Hauptstadt wenigstens besucht, will die Provinz hinter sich lassen und Entdeckungen machen. Eine Einführung in die Kunst der Exkursion

von MICHAEL RUTSCHKY

Wenn man mich fragt, was an der Stadt das Schönste ist, antworte ich regelmäßig; dass es immer was zu gucken gibt.

Man darf bloß nicht kiesätig (nennen Sie es: wählerisch, oder krüsch) sein. Warum das Brandenburger Tor vermeiden (oder den Gendarmenmarkt)? Auch die Neubauten anzuschauen – das Kanzleramt, die Friedrichstraße – verbieten sich nur Snobs unter den Bewohnern und Besuchern. Sogar die in unseren Kreisen so verbreitete Abscheu vor der Neustadt am Potsdamer Platz – habe ich mir erzählen lassen – schwindet: Öfter geht man mal hin.

Wo es ja auf jeden Fall Touristen zu beaugenscheinen gibt. Mittels ihrer Dialekte geben sie sich, auch wenn die Klamotten wie Neukölln (der, Auswärtigen erklärt, vielleicht nicht ärmste, aber verrufenste Bezirk der Hauptstadt) wirken, als Landbewohner zu erkennen, die endlich mal die Großstadt bestaunen. Hier gelten die Gesetze der Gastfreundschaft; also bitte alles Abschätzige beim Begaffen der Touristen ersparen.

Die gleichschwebende Aufmerksamkeit, die den prominenten Bauten zusteht, kann man den prominenten Leuten schlecht verweigern. Keinesfalls sollten Sie sich scheuen, bei passender Gelegenheit „Das ist doch Michael Glos!“ oder „Ach, ist das etwa Edelgard Bulmahn?“ zu denken. Damit haben Sie Ihre Seele noch nicht an die Berliner Republik verkauft; im Gegenteil: Ordentlich hinschauen impliziert in diesem Fall politische Kontrolle.

Wenn man sich im Fall der Prominenz gegen das Wegschauen entschieden hat, blühen die Gelegenheiten für das Periphere, Abseitige besonders schön auf. Versäumen Sie nie, einen Bettler genau zu mustern, während Sie ihm was geben; heute der Mann mit dem runden Strohhut afrikanischer Bauart – vielleicht kein Penner, sondern Künstler?

Gewiss gerät, wer sich für das Abseitige interessiert, in eine eigene Dynamik der Feinschmeckerei hinein. Unbedingt mal wieder in Neu-Tempelhof spazieren gehen. So begann ich irgendwann fotografisch die formlosen Riesenflecken zu sammeln, die auf Straßen und Trottoirs immer wieder entstehen, weil Bürger auf dem Gepäckträger ihres Fahrrads einen schweren Plastikeimer weißer Farbe transportieren – um die Wohnung zu renovieren.

Immer wieder stürzt ein solcher Eimer herunter, und die Ölmalerei auf dem Asphalt behauptet sich für mehrere Jahre, von interessanten Abnutzungs- und Witterungsprozessen zusätzlich verfeinert.

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