: „Vergessen Sie die Frauen nicht“
Einen demokratischen Neuanfang in Afghanistan kann es nur mit den Frauen dort geben, meint Sima Samar, Ärztin und Leiterin der NGO „Schuhada“
Interview UTE SCHEUB
taz: Ist der Frauenwiderstand in Afghanistan, der in den Medien abgebildet wird, organisiert?Sima Samar: Leider ist er nicht gut organisiert, aber es gibt ja viele verschiedene Arten von Widerstand. Zum Beispiel die Untergrundschulen in den Städten oder die Mädchenschulen in verschiedenen Regionen.
Wie können Sie unter den Bedingungen des Taliban-Regimes Schulen und Kliniken betreiben?
Ich habe 1989 von Pakistan aus damit angefangen, als es noch keine Taliban gab. Natürlich versuchen die Taliban heute immer wieder, die Mädchenschulen zu schließen. Aber wir widerstehen, weil wir starke Unterstützung in den Dörfern haben. Natürlich machen sie uns jeden Tag Schwierigkeiten. Sie kommen nachts um eins mit ihrer Kalaschnikow in ein Krankenhaus und sagen: Diese oder jene Frau war nicht korrekt verschleiert oder hat mit einem männlichen Mitarbeiter gesprochen. Dasselbe passiert in den Schulen. Letztes Jahr schickten sie uns einen Brief mit der Aufforderung, eine Mädchenschule zu schließen. Wir weigerten uns. Sie sagten, dafür würden sie uns nach der Scharia bestrafen. Ich sagte: Dann sollen sie mich dafür hängen, dass ich den Mädchen Bücher und Stifte gegeben habe. Dann sieht die Welt wenigstens, wie unterdrückt wir sind. Also: Unsere Arbeit ist sehr schwierig, aber nicht unmöglich.
Ihre Organisation arbeitet vor allem in einer Region, in der die ethnische Minderheit der Hazara lebt. Ist das der Grund, warum die Einrichtungen toleriert werden?
Ja. Mit den Hazara haben wir keine großen Probleme. Als die Taliban die Macht übernahmen, nutzten wir unsere Unterstützung durch die Hazara-Mullahs, um den Taliban klarzumachen, dass es weibliche Lehrer für weibliche Schüler gibt, dass sie also nicht islamisch handeln, wenn sie Schulen schließen. Die Hazara sind Schiiten, die Taliban Sunniten und in dieser Region auch nicht sehr präsent.
Aber wir haben auch Heimschulen in Kabul, also in einer Hochburg der Taliban. Natürlich auf einem sehr niedrigen Niveau, wir machen auch nicht viel Werbung dafür. Heimschulen befinden sich im Haus eines Lehrers, sodass höchstens dreißig Schüler unterrichtet werden können. Unter diesen Umständen können wir nicht viel mehr tun als sie alphabetisieren.
Wie halten Sie Kontakt zu Ihren Projekten?
Ich schicke von Pakistan aus männliche Boten, die Briefe und Schulmaterial mitbringen.
Sind das alles Untergrundprojekte?
Nein, nur die Schulen in Kabul. Die anderen Schulen und Krankenhäuser kennt jeder. Die höhere Schule für Mädchen hat ungefähr tausend Schülerinnen – wir können sie nicht verstecken. Die lokalen Autoritäten tolerieren sie, denn die Kontrolle der Taliban über diese Region ist gering. Sie senden nur ein paar Mullahs zur Kontrolle. Das Problem ist, dass sich täglich alles ändern kann, etwa wenn der Mullah ausgewechselt wird. Es ist ein Haufen Stress. Gerade hat man ein bisschen Geld für ein Projekt zusammengekratzt, und dann kommt jemand und schließt es oder bombardiert es. Zum Beispiel eines unserer Hospitäler, das im Juli dieses Jahres in die Front zwischen Taliban und Opposition geriet.
Sie leben in Pakistan. Stimmt es, dass sich die fundamentalistischen Demonstrationen dort ausweiten?
Nein, zum Glück nicht. Die Demonstrationen im Golfkrieg waren viel größer. Natürlich gibt es immer noch tausende Koranschulen in Pakistan, und die schicken ihre Schüler zum Demonstrieren auf die Straße. Ich habe sie gesehen, als ich zum Flughafen wollte. Es waren fast nur Kinder.
Wird Muscharraf, der Chef der pakistanischen Militärregierung, sich halten können?
Wenn er noch ein paar Wochen den Demonstrationen der fundamentalistischen Parteien standhält, wird er als Held gelten. Er versucht aber auch zu differenzieren. Er sagt, nicht alle Taliban sind Fundamentalisten, es gibt auch moderate. Deshalb hat die CIA auch versucht, einige zu kaufen. Das war ein großer Fehler.
Aber wäre es nicht eine Strategie, die Taliban-Kommandanten zu kaufen, statt ihre Gebiete zu bombardieren?
Die Bombardements müssen auf jeden Fall aufhören. Es gibt doch gar nichts mehr zu bombardieren. Die Flughäfen, das Radarsystem sind doch schon zerstört. Wenn man jetzt Taliban-Kommandanten kauft, bedeutet das, dass sie an der zukünftigen Regierung beteiligt werden wollen. Das ist keine Lösung.
Was sollte die internationale Gemeinschaft tun? Wie sollte eine neue Regierung gebildet werden?
Ich denke, es geht nur mit einer Regierung unter dem Schutz von UN-Truppen. Jeder in Afghanistan ist bewaffnet, es geht nicht ohne Militär. Es sollte eine Interimsregierung geben, die freie Wahlen organisiert. Ich bin sicher, die Taliban gewinnen sie nicht. Aber wenn die afghanischen Frauen da nicht mit einbezogen werden, hat das nichts mit Demokratie zu tun.
Es gab und gibt so viele Konferenzen über Afghanistan, und nicht selten war ich die einzige Frau. Im letzten Jahr lud mich die Schweizer Regierung zu einer ein: Der UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan erwähnte die Frauen mit keinem Wort. Auch jetzt eilt er zwischen dem früheren König und der Nordallianz hin und her und verhandelt hinter den Kulissen. Wir haben Mails und Faxe an sein Büro gesandt, bitte vergessen Sie die Frauen nicht, aber keine Reaktion.
Sind die Frauen in den Flüchtlingscamps sicher?
Nein, nirgends. Das Problem in unserer Kultur ist, dass die Frauen als Besitz der Männer gelten.
Ist die traditionelle Kultur also ein Hindernis für die Rechte der Frauen?
Nein. Wir hatten ja schon weibliche Abgeordnete und Ministerinnen – vor der sowjetischen Invasion. Ich wurde nie geschlagen oder bestraft, auch unter den Taliban nicht. Ich habe die Schule und die Universität besucht, jetzt bin ich Direktorin einer NGO und habe männliche Untergebene. Es liegt nicht in unserer Kultur. Die Taliban sind ein Produkt des jahrzehntelangen Krieges. Viele junge Männer haben sich den Taliban angeschlossen, weil sie ihre Familie ernähren mussten. Die sind nicht gegen Frauen, aber natürlich die Kommandeure und Mullahs.
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