: „Religion spielt hier überhaupt keine Rolle“
Die Ablösung des Verbrechers durch den Verschwörer: Ein Gespräch mit dem Kunst- und Medientheoretiker Boris Groys über den Verdacht, der nur durch seine eigene Überbietung gebannt werden kann, den Terrorakt als Moment der Evidenz, den Terrorismus als Geheimbund und das Ende der Privatsphäre
Interview VITUS H. WEH
taz: Herr Groys, Ihr Vortrag, den Sie heute in Berlin halten, trägt den Titel „Archive der Verschwörung. Das Phänomen des globalen Zweifels“. Wie soll man das verstehen?
Boris Groys: Mein Ausgangspunkt ist, dass unsere bisherige Vorstellung, dass die Archive des Wissens – Gefängnisse, Paläste oder Museen, also die Repräsentationsräume der Macht – klar abgrenzt von allen anderen Räumen sind, nicht mehr haltbar ist. Angesichts der schieren Fülle der archivierten Dinge und Zeichen haben wir keine Übersicht über die Grenze der Repräsentationsräume mehr. Mit dem Verlust der Grenzen aber verschwindet auch die Kategorie des Verbrechens, dessen Rhetorik ja gerade die Überschreitung oder Sprengung dieser Grenzen beschwor. Ersetzt wurde die Dialektik von expliziter Macht und Verbrechen nun durch den Verdacht der Verschwörung. Das heißt, hinter der Oberfläche der Zeichen kann eine ordnende Kraft nur noch geahnt werden.
Und was ist aus den „Orten der Macht“ geworden?
Ich vermute, dass sie heute im Submedialen liegen. Sie befinden sich im Keller einer mediatisierten Welt, auf deren Oberfläche diese Orte nicht mehr zu erkennen sind. Im submedialen Raum aber operiert die Macht im Modus der Verschwörung. Der Bogen spannt sich dabei von terroristischen Praktiken und ihren geheimdienstlichen Gegenmächten bis hin zu Strategien der zeitgenössischen Kunst. So wie viele Künstler heute darum bemüht sind, nicht mehr erfass-, katalogisier- oder kategorisierbar zu sein, und Museen früher mit ihren Sammlungen der Inbegriff der Unterscheidung zu Bühnen temporärer Ausstellungen werden, die die Grenzen zwischen Kunst und Alltag verwischen, so ist auch das Nichtbekenntnis heutiger terroristischer Gruppen ein typischer Zug der allgemeinen Verschwörungslage. Statt sich zu deklarieren, wartet man lieber auf eine Unterstellung seitens der Betrachter. Indem man sich zu den eigenen Taten nicht bekennt, macht man darüber hinaus die ganze Welt zum Zeichen dieser Taten.
Welche alltäglichen Beispiele sehen sie für ihre Verschwörungs-Diagnose?
Es gibt eine Parallele zwischen der Krise der Repräsentation und dem wachsenden Interesse an Intrigen und Kriminalromanen seit dem 19. Jahrhundert. Dieselbe Zeit, die beispielsweise den Anzug als allgemeine, anonyme Kleiderordnung etablierte, produzierte auch die neue Figur des Privatdetektivs. In einer Situation, in der Machthaber von Machtlosen nicht nur optisch ununterscheidbar wurden, sondern auch begannen, das Gleiche zu essen und zu trinken und die gleiche Sprache zu sprechen, wurde es seine Aufgabe, ebendiese Unterscheidung zu treffen: zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen, zwischen Involviertheit in eine Verschwörung oder Unschuld. Populäre Serien wie Colombo und Tatort oder die Filme von Alfred Hitchcock geben gute Beispiele ab. Der Privatdetektiv ist in der Tat der Held unserer Zeit, die investigative Tätigkeit das herrschende Narrativ. Andere Berufe werden sogar als Fortsetzung der privatdektivischen Tätigkeit umgeschrieben: der Bibliothekar bei Umberto Eco, die Mediziner in den Arztromanen usw.
Und was ist mit den Tätern?
In unserer Kultur ist die Figur des großen Verbrechers obsolet. Seine Stelle hat der große Verschwörer eingenommen. Wir wissen nicht, wer spricht, mit wessen Zeichen wir es zu tun haben. Nicht einmal seine eigene Handlung kann man richtig deuten. In Deutschland wird dies besonders in Hinblick auf die Stasi reflektiert: Wann hat man eigentlich bewusst für die Stasi gearbeitet, wann nicht? Wichtig ist daher die Figur des Agenten und Manipulators einer Verschwörung. Literarische Belege finden sich bei Alain Robbe-Grillet, Thomas Pynchon oder John DeLillo.
Es stellt sich die Frage, wie in dieser Stimmung der Paranoia noch so etwas wie Wahrheit erscheinen kann. In Ihrem neuesten Buch „Unter Verdacht“ haben Sie eine Strategie der Überbietung formuliert, der zufolge ein Verdacht nur durch seine noch ungeheuerlichere Realisierung gebannt werden könne. War der Terrorakt vom 11. September eine Bestätigung Ihrer These?
Da wir immer das Schlimmste erwarten, ist solch ein Terrorakt tatsächlich ein Moment der Evidenz. Der 11. September wurde ja rezipiert als eine wahre Einsicht in die wahre Beschaffenheit der Welt. Dass solch ein singuläres Ereignis diese Wichtigkeit bekommt, ist natürlich völlig irrational. Aber es ist ein guter Beleg für die These, dass der Horizont der heutigen Welt die Weltverschwörung ist. Heidegger würde sagen, es ist die neueste „Lichtung des Seins“.
Derzeit wird massiv die Auflösung der Privatsphäre vorangetrieben. Passt das auch zu ihrer Trenddiagnose?
Was wir Privatsphäre nennen, war im Westen immer die Repräsentationssphäre der Macht schlechthin, da von dort aus der souveräne Bürger seine Rechte ausübt. Zwar haben alle revolutionären Protestbewegungen mit dem Schlachtruf „Das Private ist politisch“ genau auf die Sprengung dieser Vorstellung gezielt, aber auch der Marxismus beabsichtigte deren Auflösung nur in Form einer neuen Repräsention. Nun allerdings haben wir ein neues Phänomen: weder Revolution noch Kalter Krieg, sondern die Realität oder Illusion einer Weltverschwörung. Das bedeutet, jede private Mitteilung könnte als eine verschlüsselte Botschaft interpretiert werden – und hört damit auf, rein privat zu sein. Aus diesem Grund versucht man in den USA beispielsweise die Ausstrahlung der Stellungnahmen der Terroristen zu unterbinden. Eine paradoxe Situation: Als politische Reden müssten sie zugelassen werden, da sie aber verschlüsselte Botschaften enthalten könnten, sollen sie verboten werden. Letztendlich führt die neue Situation zur völligen Ununterscheidbarkeit und Ambiguität hinsichtlich aller unserer Rechte, auf die sich unsere Souveränität begründet.
Aber in Realität ist der Kreis der Verdächtigen doch sehr überschaubar?
Man sollte nicht den Fehler machen anzunehmen, dass wir es mit einer Repräsentationsstrategie zu tun haben. Viele fragen immer noch nach den Ursachen des Terrors und verweisen auf die Lage in Israel/Palästina oder die Armut in bestimmten arabischen Ländern. Diese politische Symptomatik lehne ich generell ab. Das hat einen sehr imperialistischen und kolonialistischen Beigeschmack: Wir machen Ursachen aus und erklären komplexe Bewegungen zu deren kausalen Symptomen, statt zu realisieren, dass diese Bewegungen bestimmte Ziele, Ideologien, Strukturen und Strategien haben, die sich darauf nicht reduzieren lassen. Die eigentlichen Ursachen liegen in der Struktur unserer Gesellschaft selbst begründet. Der Terrorismus und das Geheimbundwesen hat in unserer Zivilisation eine lange Tradition. Es gab Michael Bakunin, Peter Kropotkin, Georges Sorel. Es gab den modernen politischen Terror und es gab eine moderne Theorie des Terrors. Auch die al-Qaida steht in der Tradition dieser durch und durch europäischen und modernen Geschichte. Immer haben wir es dabei mit Repräsentanten der Mittelschicht zu tun. Wie die Täter des 19. Jahrhunderts oder der 60er-/70er-Jahre stammen auch die heutigen Verdächtigen aus wohlhabenden, gut ausgebildeten Familien. Die islamischen Kleider halte ich schlicht für Kostümierung. Diese Orientalisierung wird ebenso absichtlich betrieben wie die Angabe von möglichen Ursachen. In meinen Augen spielt hier Religion überhaupt keine Rolle. Signifikanter ist doch, wie sehr die Terrorakte Filme wie „Independence Day“ oder „Armageddon“ zitierten, und wie geschickt Video als Medium verwendet wird. Das heißt, die Bewegung ist durch und durch modern.
Auf Bedrohungsszenarien lässt sich reagieren. Die Flächenbombardements des Zweiten Weltkriegs führten beispielsweise zur Idee der aufgelockerten Gartenstadt. Welche gesellschaftlichen Änderungen erwarten Sie?
Viele Reaktionen auf Verschwörungssituationen sind schon in Science-Fiction-Filmen wie „Die Klapperschlange“ von John Carpenter beschrieben worden: Die einzige Möglichkeit gegen Verschwörungen zu wirken ist es, eine eigene Verschwörung zu organisieren. Alle werden sich also auf verschiedene Weise in Verschwörungen involvieren müssen. Durch die klaren Räume der Machtrepräsentation haben wir lange unter der Bedingung relativer Sicherheit gelebt. Durch die Globalisierung sind jedoch viele Grenzen dieser Stellvertreter-Strukturen übersprungen worden. Viele der einstmals sicheren Repräsentationsräume existieren nicht mehr. Und wie wir leben werden? Ich nehme an, in einem Zustand der permanenten Unsicherheit. Wir werden leben wie heute bereits in Russland: Wer sich schützen will, geht zur Mafia oder zu privaten Agenturen. So wie wir uns bereits heute als ökonomische Ich-Aktie begreifen, werden wir uns tendenziell auch sicherheitspolitisch privatisieren.
Das hört sich nach wildem Mittelalter an.
Vielleicht ähnelt die Zukunft den Zuständen, wie sie in vielen Filmen beschrieben werden als die Rückkehr zum Spätfeudalismus unter dem Einsatz moderner Waffen. Damals kümmerte sich jeder selbst darum, nicht umgebracht zu werden: Entweder musste man sich duellieren oder jemand dafür bezahlen. Es ist daher nicht erstaunlich, in wie vielen Science-Fictions die Zukunft in mittelalterlichen Gewand daherkommt. Ich erinnere nur an „Star Wars“.
Dann wird es interessant sein, wo die Klöster der zukünftigen Gesellschaft zu finden sein werden.
Ich glaube, dass man keine Ausnahme von der Regel akzeptieren wird. Der Glaube ist weg und für Intellektuelle wird es keine Schonung geben. Die zukünftigen Intellektuellen werden wohl Offiziere sein. So wie einst Descartes, Montaigne oder Kleist. Sie haben ihre Arbeiten in der Freizeit zwischen den Kriegen geschrieben. Oder man verfasst seine Werke wie Wittgenstein oder Sartre in der Gefangenschaft. Für die Intellektuellen ist das möglicherweise gar nicht schlecht, wenn sie Zeitnot haben oder ihr Leben bedroht ist. Es wird das Verantwortungsgefühl für das Geschriebene erhöhen.
Die Volksbühne in Berlin reagiert auf die aktuelle Terrorhysterie mit der Veranstaltungsreihe „Verbrechen und Verschwörung“. Den Eröffnungsvortrag dazu hält heute um 20 Uhr Boris Groys.
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