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Die Vaterlandslose

103 Jahre alt und schon ein bisschen weise: Die Autorin und Übersetzerin Marianne Frenk-Westheim ist eine der letzten Überlebenden des deutschsprachigen Exils in Mexiko. Ein Besuch

von ANNE HUFFSCHMID

Marianne Frenk-Westheim ist eine weise Frau. Das hat sie neuerdings sogar schriftlich. Irgendwo muss es herumliegen, das „Weisen-Diplom“, das ein mexikanisches Kulturinstitut im vorigen November einer Reihe von klugen alten Köpfen verliehen hat. „Wenn ich etwas sage, müssen Sie also bitte ehrfurchtsvoll zuhören“, sagt sie, und das ist selbstredend ironisch gemeint. Seit 71 Jahren lebt die gebürtige Hamburgerin in Mexiko. In ihrer Wahlheimat umgibt sie zärtliche Verehrung. Literaten, Künstler, Kulturschaffende zählen zu ihren Bewunderern. „Wenn ich in Hamburg geblieben wäre“, sagt Mariana, wie sie hier genannt wird, „hätte ich wohl nie den Mut zum Schreiben gefunden.“

Bis vor kurzem kannten selbst die besten Freunde ihr Geburtsjahr nicht. „Sagen wir, ich erinnere mich nicht mehr“, sagt sie bei einem unserer ersten Gespräche kokett. „Jedenfalls bin ich kein ganz junges Mädchen mehr.“ Etwas ist an ihrer listigen Heiterkeit, ihrer Art, wie sie ihren gebrechlichen Körper in die Kissen des weißen Sofas drapiert, was einen ganz neidisch macht. Und fröhlich. Jeder Plausch mit ihr, bei Keksen und ihrem geliebten Agua de Jamaica, knallrotem Hibiskusblütenwasser, gleicht einer kleinen, verschlungenen Reise durch die Zeit.

Es war Liebe auf den ersten Blick, als sie an einem Aprilnachmittag 1930 zum ersten Mal mexikanischen Boden betrat. Sie war fasziniert von der Freiheit und der „Liebenswürdigkeit, die das Volk hier von innen heraus hat“, sagt sie, „nicht dieses amerikanische How do you do, nice to meet you, und das ist alles“. Kurz nach ihrer Ankunft in Mexiko-Stadt, erzählt Mariana, „musste ich einmal in ein sehr armes Viertel. Mein Orientierungssinn ist nicht ganz extra, und da habe ich einen wirklich ziemlich zerlumpten Mann nach dem Weg gefragt. Er antwortete mir mit einer Höflichkeit und einer Würde, von denen deutsche Professoren noch etwas lernen könnten – auch wenn die Adresse dann nicht stimmte.“

Für Mariana und ihren ersten Mann, den Mediziner Ernst Frenk, war Mexiko noch nicht Schicksal wie später für die Schiffsladungen flüchtender Antifaschisten, sondern Entscheidung. Schon drei Jahre vor der Institutionalisierung der Barbarei in Deutschland hatte die jüdische Familie die unheilvollen Zeichen der Zeit erkannt. Und suchte sich auf der Landkarte „in aller Gemütlichkeit“ eine zweite Heimat aus. Marianne hatte romanische Sprachen studiert, man lernte in einem Buchladen eine nette Mexikanerin kennen, auch Ernst Frenk würde dort als Arzt praktizieren dürfen. Also Mexiko. Dreieinhalb Wochen geht die Reise übers Meer, zu viert – die Kinder Margit und Silvestre waren vier und sechs Jahre alt – in einer kleinen Kabine auf einem holländischen Frachter. Ohne Rückfahrschein.

In Mexiko werden die Frenks schnell heimisch. Sie knüpfen Kontakt zur Kulturszene, zu Künstlern und Studenten. Von der überwiegend kaufmännischen Colonia Alemana – von denen sich viele für Hitler begeistern, „und das ohne jeden Druck, hier war es eher ein Luxus“, sagt Mariana, und in ihrer Stimme klingt Verachtung mit – halten sie sich genauso fern wie von den politischen Fehden unter den Exilanten, die mit Kriegsbeginn nach Mexiko kommen. Sie versuchen zu helfen, Ernst Frenk bietet den Flüchtlingen in seiner Praxis Gratisbehandlung an, Mariana arbeitet als Sprachlehrerin in beiden Richtungen.

Sie pendelt hin und her zwischen den Sprachen und Kulturen. Später wird sie Literaturdozentin und Hispanistin, schließlich Museumsexpertin; noch bis Mitte der Achtzigerjahre konzipiert sie Ausstellungen und Kataloge für das „Museum für Moderne Kunst“. Und sie übersetzt literarische Texte. Als ihr Meisterstück gilt die erste fremdsprachige Übersetzung von Juan Rulfos „Pedro Páramo“, einem der berühmtesten lateinamerikanischen Roman aller Zeiten. „Diese Übersetzung ist ein Kunstwerk“, sagt die Literaturwissenschaftlerin Margo Glantz über ihre alte Freundin, „es ist, als hätte Rulfo sie neu geschrieben.“

In Spanisch, ihrer „zweiten Muttersprache“, legt sie dann ihr eigenes Erstlingswerk mit dem programmatischen Titel „Y mil aventuras“ („Und tausend Abenteuer“) vor – und zwar, das dürfte für eine Debütantin Weltpremiere sein, mit 94 Jahren. Das bezaubernde Büchlein, das kürzlich in dritter Auflage erschien, enthält Aphorismen, Fabeln, absurde Short Storys und andere Miniaturen und wurde in der mexikanischen Kritik einhellig als „bizarr und exquisit“ gelobt. Seit drei Jahren ist ein neues Buch in Arbeit, „Komische Reime für Große und Kleime – m statt n = poetische Lizenz“, erstmals auf Deutsch. „Die kamen wie aus der Luft angeflogen“, sagt sie und hofft – großer Wink mit dem Zaunpfahl – noch zu Lebzeiten auf einen deutschen Verlag.

1959, zwei Jahre nach dem Tod von Ernst Frenk, heiratet Mariana den jüdischen Kunstkritiker Paul Westheim. Der führende publizistische Kopf der deutschen Expressionisten und entschiedene Nazigegner war 1941 nach Mexiko geflohen. Wie viele jüdische Intellektuelle, von denen der nazistische Kulturbetrieb „gesäubert“ worden war, ist auch Paul Westheim nie offiziell zur Rückkehr nach Deutschland aufgefordert worden. Erst 1963 reisen die Westheims auf Einladung des Berliner Senats und der Ford Foundation erstmals wieder in ihre alte Heimat. Für den „Kunstpapst“ ist es die letzte Reise, als 79-Jähriger erliegt er in Berlin einem Herzleiden. Und Mariana kehrt, zum zweiten Mal Witwe, allein nach Mexiko zurück.

Mariana oder Marianne, die Frage nach der Identität hat sich ihr nie gestellt. „Wozu brauchen wir ein Vaterland?“, zitiert sie Heinrich Heine. 1935 wurde die Hamburger Jüdin ausgebürgert, wenig später bekam sie einen mexikanischen Pass. Hier, in Mexiko, leben die meisten ihrer achtundzwanzig Urenkel und ihrer zehn Enkel. Einer von ihnen, Julio Frenk, ist seit kurzem Gesundheitsminister. Die Tochter Margit, inzwischen 75-jährig, gehört zu den großen Philologinnen des Landes und wurde im vorigen Jahr mit dem nationalen Linguistikpreis ausgezeichnet. „Ich glaube nicht mehr an Nationalitäten“, sagt Mariana, „ich orientiere mich eher an meinen horizontalen Landsleuten.“ Also an denen, „die das Gleiche lesen oder hören wie ich, ob sie nun Chinesen, Mexikaner oder Deutsche sind“. Und sie glaubt fest daran, dass der Weg in eine andere Sprachwelt auch eine Befreiung sein kann.

Von ihrer Wohnung im achten Stockwerk eines Apartmenthauses in Polanco, einem der ehemals feineren Viertel von Mexiko-Stadt, reicht der Blick bei klarem Himmel bis zu den Bergsilhouetten, die die Hauptstadt umgeben. Zwar ist ihr der lärmige Moloch, in dem sich heute mehr als zwanzig Millionen Menschen aneinander drängen, mit den Jahren fremd geworden. Aber sie nimmt es mit derselben weisen Gelassenheit, mit der sie sich auch über die Unwägbarkeiten des mexikanischen Alltags lustig macht. „Seien Sie von vornherein darauf gefasst, dass die Dinge nicht funktionieren“, sagt sie, „dann werden Sie glücklich sein, wenn es einmal anders kommt.“ Ein zartes Glucksen, die vierhundert Falten tanzen im Gesicht.

Ihr Geist ist hellwach. Der gebeugte Körper aber will schon länger nicht mehr; seit ein paar Jahren ist Mariana auf den Rollstuhl angewiesen. Nun sind auch die Augen müde geworden, die Ohren zunehmend taub. Immer mühsamer wird es, teilzuhaben am großen Gewimmel aus Lettern und Lauten. „Aber das ist doch der ganze Sinn des Lebens“, sagt sie, „lesen und hören und schreiben.“

Mit einem Mal klingt leise Verzweiflung aus ihrer Stimme. Nur die ganz großen Zeitungsüberschriften kann sie noch mit der Lupe entziffern, „die kleinen muss ich raten“. Fetzen eines Goethe-Gedichts schwirren ihr im Kopf herum. Ich werde ins Arbeitszimmer geschickt, ein paar Bände aus den „Gesammelten Werken“ zu holen. Nach einigem Blättern werden wir fündig: „Was unterscheidet Götter von Menschen? Dass viele Wellen / Vor jenen wandeln, /Ein ewiger Strom. / Uns hebt die Welle, / verschlingt die Welle, / und wir versinken.“

Mit geschlossenen Augen hört sie zu. Und lächelt dabei. Ob ich in den nächsten Wochen wieder einmal vorbeikommen dürfe? Gerne, erwidert Mariana. Nein, unterwegs werde sie sicher nicht sein. „Oder höchstens auf einer ganz großen Reise.“ Ihre Hand beschreibt einen weiten Bogen in der Luft. Beim nächsten Mal war sie noch da. Und es gab wieder Agua de Jamaica.

Anne Huffschmid, 36, ist Berlinerin und lebt als freie Autorin überwiegend in Mexiko-Stadt. Allerdings erst seit neun Jahren – und immer mit Rückfahrschein.

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