: Zwischen allen Zäunen
Für Anwohner sind die Flüchtlinge „Hinterwäldler“, für die Polizei Illegale und für die Tunnelbetreiber ein „Geschäftshindernis“
aus Sangatte DOROTHEA HAHN
„Ich bin in Europa. Ich bin glücklich. Wenn Gott will, komme ich bald in Großbritannien an.“ So hat es Ramazan seinen Eltern geschrieben, als er in Sangatte auf der französischen Seite des Ärmelkanals ankam. Die doppelten Stacheldrahtrollen, die bellenden Hunde, das Flutlicht, die Videokameras, die schnell vorbeifahrenden Züge und die uniformierten Männer, die ihn nachts über Stoppelfelder jagen, hat er ihnen verheimlicht.
Der Junge aus Afghanistan hat die weite Reise allein gemacht. Seine Eltern hatten ihr Geschäft und ihr Auto verkauft, um die 6.000 Dollar dafür zusammenzubringen. Versteckt auf Lkw-Ladeflächen, im Kofferraum eines Autos, in einem Schiffsbauch und zu Fuß hat er sich seinem Ziel bis auf 30 Kilometer genähert. Bei gutem Wetter kann Ramazan jetzt die Kreidefelsen und Schornsteine von Dover sehen. Er kann die Fähren beobachten, die in 90 Minuten von Calais nach England fahren. Und er kann zu Fuß zu dem zweieinhalb Kilometer entfernten Verladebahnhof gehen, auf dem die Eurostar-Züge ihre 45-minütige Tunnelfahrt zur Insel beginnen.
30 Millionen Passagiere pendeln jedes Jahr mit Zug und Fähre zwischen den beiden Seiten des Kanals. Ramazan, der keine Einreisepapiere für Großbritannien hat, versucht, nachts auf fahrende Züge zu springen. Immer wieder hat ihn die Polizei zum Flüchtlingslager zurückgebracht.
Die Fabrikhalle, in der in den frühen 90er-Jahren die Deckenelemente für den benachbarten Eurotunnel gebaut wurden, dient gegenwärtig 1.700 Flüchtlingen als Notunterkunft. Die Familien sind in Containern untergebracht. Für Junggesellen stehen Zelte in der Halle, die groß ist wie vier Fußballfelder. Die Flüchtlinge von Sangatte kommen aus Gegenden, in denen die zweite Sprache Englisch und die erste Referenz Großbritannien ist. Ihre Herkunftsländer sind Afghanistan, Irak und Iran. Ihre Fluchtgründe sind unterschiedlich. Aber alle haben ein Ziel: Großbritannien. „Dort ist es einfach, einen Asylantrag zu stellen, da gibt es Arbeit für alle, und da braucht man keine Ausweispapiere, um zu leben“, sagt Ramazan.
Das Lager von Sangatte
Sangatte sollte eine Transitstation sein. Im September 1999 hatte die französische Regierung die leer stehende Halle der Eurotunnelgesellschaft beschlagnahmt und sie dem Roten Kreuz übergeben. Die Hilfsorganisation sollte Kosovoalbaner, die auf der Flucht nach Großbritanien in den Parks von Calais campierten, ein Dach, Essen und medizinische Versorgung bieten. Nicht mehr. Um keine weiteren Flüchtlinge zum Kommen zu „ermuntern“. Aber auch nicht weniger. Schließlich hat Frankreich seinen Ruf als „Land der Menschenrechte“ zu verlieren.
Zwei Jahre danach haben 33.000 Menschen das Lager Sangatte durchlaufen. Den meisten ist die Flucht nach Großbritannien gelungen. Die Halle von Sangatte, die als Provisorium für 650 Menschen geplant war, ist zum größten Flüchtlingslager Frankreichs geworden. Anders als die Kosovoalbaner, die nur zwei oder drei Tage brauchten, bis sie einen Weg auf die andere Seite des Kanals fanden, bleiben die heutigen Flüchtlinge monatelang in Sangatte hängen.
Denn die Insel hat ihre Grenzkontrollen verschärft. Und hat Geldstrafen von 2.000 Pfund für Spediteure eingeführt, die „Illegale“ transportieren. Im vergangenen Jahr zog die französische Seite nach. Der Hafen von Calais schaffte Zäune, Infrarotkameras und CO2-Messgeräte an und engagierte 60 Wachleute. In diesem Jahr richtete sich auch die Eurotunnel-Gesellschaft auf die neue Lage ein, kaufte technisches Gerät, ließ ringsum Büsche ausreißen und die Baumstämme kahl sägen, um die „Sichtbarkeit“ zu erhöhen, und stockte die Zahl ihrer Wachschützer auf 300 auf. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres haben sie 15.000 Flüchtlinge aufgegriffen. Manche haben sie von Zügen gepflückt, andere aus dem Gebüsch geholt. Vor ein paar Wochen waren sie einer Gruppe von 100 Männern in den Tunnel hinterhergelaufen. Wenige Tage danach gab ein Wachschützer einen Schuss ab und traf einen afghanischen Flüchtling in den Oberschenkel.
Der Eurotunnel ist eine Aktiengesellschaft. In ihrer Logik ist das Flüchtlingslager eine „Provokation“ und ein „Geschäftshindernis“. Wegen der vielen Zugverspätungen, wegen der hohen Sicherheitskosten und wegen des Images. Nachdem die britische Regierung nun auch noch die Geldstrafe für „Illegale“ an Bord der Züge verlangen will, hat die Eurotunnel-Gesellschaft gleich zwei Klagen eingereicht: In Frankreich klagt sie auf Schließung des Flüchtlingslagers; in Großbritannien auf Annullierung der Geldstrafe.
Die Proteste der großen Aktiengesellschaft kommen in den umliegenden Gemeinden vielen gelegen. Der sozialistische Bürgermeister von Sangatte verlangt schon lange die Schließung des Lagers, das bei der Bevölkerung „Unsicherheitsgefühle“ und „Angst“ erzeuge. „Nächstenliebe und Solidarität haben Grenzen“, sagt André Ségard, der schon viele Petitionen zur Durchsetzung der Menschenrechte in Afghanistan unterzeichnet hat. In seinem 900-Einwohner-Dorf verlangen jetzt Eltern von ihren Kindern, dass sie weggucken, wenn sie Flüchtlinge sehen. Barbesitzer Claude Devos beklagt „Einnahmeverluste“. Und die Stammkunden an seiner Theke hetzen über die „zurückgebliebenen Hinterwäldler“ in dem Lager am Ortsrand. Besucht haben sie die Fabrikhalle nie. Sonst wüssten sie, dass viele Flüchtlinge aus der gebildeten und begüterten Mittelschicht stammen und dass besonders Ärzte, Lehrer und Ingenieure zahlreich vertreten sind.
Ein einziger Lokalpolitiker wagt es heute noch, das Flüchtlingslager am Tunnelausgang als „notwendig“ zu bezeichnen. „Wir dürfen diese Unglücklichen nicht auf die Straße schicken“, sagt der Kommunist Jacki Hénin, der die Großstadt Calais regiert. Aber auch er mahnt: „Wir können nicht das Elend der ganzen Welt aufnehmen.“ Das ist ein Satz, der in der Region häufig fällt.
Am späten Nachmittag kommt Bewegung auf den Vorplatz des Lagers von Sangatte. Familien mit kleinen Rucksäcken und Bauchtaschen durchqueren das Zuckerrübenfeld und biegen an der Landstraße nach links in Richtung Bushaltestelle ab. In der Nacht werden sie sich in Calais auf Lastern verstecken, die auf der Fähre nach Großbritannien übersetzen, und hoffen, dass sie nicht entdeckt werden, bevor sie auf britischem Territorium ankommen.
Djawad hat seine drei kleinen Geschwister dabei. Das Gesicht der vierjährigen Jüngsten ist zerkratzt. „Von den Brombeersträuchern“, sagt der 20-jährige Bruder, „wir mussten uns gestern Nacht im Gebüsch verstecken.“ Der zu Hause gebliebene Vater, General in der afghanischen Nordallianz, die gegen die Taliban kämpft, hat die Flucht der vier bezahlt.
Bei Einbruch der Dunkelheit verlassen auch die jungen Männer das Lager. Sie sind dunkel gekleidet. Manche haben die Unterarme mit Tüchern umwickelt, um sich gegen die messerscharfen Klingen des Stacheldrahts zu schützen. In Dreiergruppen biegen sie nach rechts auf die Landstraße ab. Gehen bis zu dem Rondell, hinter dem das Einkaufszentrum „Cité de l’Europe“ die Nacht erleuchtet. Überqueren im Laufschritt die vergitterte Bahnbrücke mit der Aufschrift „Lebensgefahr“ und „Hochspannung“ und zweigen dahinter auf das Brachland vor der Autobahn ab. Sobald sie die Fahrbahn der A 16 überquert haben, beginnt ihre Suche nach einem Loch im Zaun rund um das Eurotunnel-Gelände.
In dieser feuchtkalten Septembernacht zeigt der 21-jährige Walli seinen afghanischen Landsleuten Jawad und Ahmad einen Weg. Führt sie bis zur Sporthalle. Läuft mit ihnen über ein Maisfeld. Öffnet ein Loch im Zaun, das irgendjemand vorher hineingeschnitten hat. Und robbt mit ihnen auf allen vieren bis auf wenige Meter an die Gleise heran. Der Gruppe von Kurden, die sie dort treffen, lässt er ungefragt die besten Plätze. „Die haben Messer in der Tasche“, flüstert er seinen Landsleuten zu.
In der Schleife vor dem Tunneleingang, in der die Züge ihre Fahrt verlangsamen müssen, kauern sich die drei Jungen in eine Kuhle und warten auf den mit Lkws beladenen Nachtzug. Kurz nach 23 Uhr wollen sie aufspringen. Wollen sich an das Gestänge klammern, bis sie im Tunnel sind. Sich dann zu einem Laster vorhangeln. Dann unter die Plane schlüpfen. Oder über die Fahrerkabine. Oder unter das Fahrgestell. Bis Großbritannien.
Am Morgen danach kommen fast alle erschöpft und durchnässt ins Lager Sangatte zurück. Weißblau lackierte Mannschaftswagen laden die Flüchtlinge auf dem Vorplatz ab. „Police-Taxis“ heißen sie bei den Flüchtlingen. Es gibt Polizisten, die mit dem Knüppel in ihre Handinnenflächen schlagen, während die Flüchtlinge aussteigen. Andere muntern die Jungen zum Abschied auf: „Diese Nacht hattest du Pech. Wir haben dich erwischt. Vielleicht klappt es beim nächsten Mal.“
Auf einen Zug zu springen ist nicht der einzige Weg. Im Hafen von Calais steigt eine iranische Familie mit zwei Kindern von der Ladefläche eines englischen Lkw herunter und in den daneben wartenden Kleinbus der Grenzpolizei hinein. Schweigend. Die Kontrolleure haben einen Metallstab zur CO2-Kontrolle in den Laderaum des Lkw gehalten und menschlichen Atem gemessen. Dann haben sie den Fahrer die Plane zurückschlagen lassen.
Die iranische Familie versucht es seit einem Monat. Für jeden neuen Anlauf verlangt ein Schlepper, der ihnen den Weg zu einem Versteck im Lkw weist, 500 US-Dollar pro Kopf. Auch für die Kinder. Nur selten ist einer der jungen Männer, die mit dicken Geldbündeln in den Cafés der Region sitzen, bereit, den Flüchtlingen einen zweiten Versuch gratis zu gewähren.
Flehend am Bahnsteig
Im Bahnhof von Fréthun, dem letzten Passagierbahnhof vor der Tunneleinfahrt, fleht eine junge Frau die Grenzschützer an: „Lassen Sie mich wieder in den Zug! Ich muss zu meinem Mann. Ich kann nicht in die Türkei zurück!“ Sie rutscht auf Knien über den Bahnsteig. Sie weint. Sie streichelt über die Hosenbeine der uniformierten Männer. Dann greift sie ihren Jüngsten, der noch nicht sprechen kann, an den Armen und hält ihn unter den Zug.
Aliye hat Istanbul vor fünf Wochen verlassen. Seither ist sie mit ihren beiden Jungen kreuz und quer durch Europa gereist. Als sie an diesem Septembertag in Paris in das Erste-Klasse-Abteil des Eurostars nach London stieg, hatte sie sich kurz vor dem Ziel gewähnt. Bis die Grenzschützer sie in Fréthun aus dem Zug holten. Sie werden Aliye und ihre Söhne ins Lager Sangatte bringen. Der Eurostar wird auch an diesem Tag mit Verspätung in den Tunnel fahren.
Im Lager von Sangatte ruht sich der 16-jährige Ramazan auf dem Feldbett aus, das seit drei Wochen sein Zuhause ist. Er will am Abend wieder fit sein, für den nächsten Versuch, nach Großbritannien zu kommen. Beim Abschied im Juli in der afghanischen Provinz Bamian – „wo wir die schönsten Buddhas der Welt hatten“ – haben ihm seine Eltern gesagt: „Werde glücklich!“ Wenn Ramazan in Großbritannien ankommt, will er sofort eine Arbeit suchen. „Ich muss meine Familie ernähren“, sagt er, „und meinen kleinen Bruder nachholen.“
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