: Lagune verdrecken erlaubt
Überraschender Urteilsspruch im italienischen Chemiefirmen-Skandal: Nach dreijähriger Verhandlung sprach Gericht von Venedig alle Angeklagten frei. Berufung angekündigt
aus Rom MICHAEL BRAUN
Freispruch in allen Anklagepunkten: Mit diesem Urteil endete am Freitag in Venedig der Prozess gegen 28 Chemiemanager, die der fahrlässigen Tötung in 157 Fällen, der fahrlässigen Körperverletzung sowie der Umweltzerstörung angeklagt waren. Als Werksleiter und Direktoren der beiden Chemieriesen Montedison und ENI waren die Angeklagten in den letzten 30 Jahren für den Produktionsbetrieb in Porto Marghera vor den Toren Venedigs verantwortlich. Die Staatsanwaltschaft warf ihnen vor, bis in die Siebzigerjahre billigend den Krebstod zahlreicher Arbeiter in Kauf genommen zu haben. Die nämlich waren bei der Produktion von PVC und von monomeren Chloridverbindungen schutzlos den giftigen Substanzen ausgesetzt. Zudem hätten beide Firmen tonnenweise Schadstoffe ungefiltert in Luft und Lagune von Venedig entsorgt und damit einen ökologischen Schaden angerichtet, den der Nebenklagevertreter der italienischen Regierung auf über 70 Milliarden Mark bezifferte.
Doch weder für die Toten noch für die Öko-Katastrophe müssen die früheren und heutigen Chefs von Marghera gerade stehen. Das Gericht argumentiert, bis 1973 sei die Tatsache unbekannt gewesen, dass PVC Krebs erzeugt; nach 1973 hätten die Fabriken „schnell“ die Produktion an die neuen Erkenntnisse angepasst. Die Argumentation überrascht insofern, als die Staatsanwaltschaft Firmendokumente vorlegte, die belegen, dass dem Management lange vor 1973 der krebserzeugende Charakter von PVC klar war. Kurios auch ist die Behauptung der Richter, die Umweltschäden in der Lagune von Venedig stellten keine Gesundheitsgefahr dar. Hier setzte sich die Verteidigung durch, die etwa den Verzehr von Muscheln aus der Lagune als ungefährlich bezeichnete, obwohl wegen deutlich erhöhter Dioxinwerte die Muschelernte dort verboten ist.
Der Komplett-Freispruch überraschte auch die Angeklagten. Noch vor Prozesseröffnung vor drei Jahren hatten ENI und Montedison Entschädigungszahlungen von 70 Millionen Mark geleistet, und wenige Tage vor dem jetzt erfolgten Urteilsspruch verpflichtete sich die Montedison zur Zahlung von gut 500 Millionen Mark für die Sanierung der Umwelt. Damit wollen sich aber weder die Staatsanwaltschaft noch Nebenkläger; Vertreter der Opfer, die Stadt Venedig, Umweltverbände und Gewerkschaften; zufrieden geben: Sie wollen in Berufung gehen.
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