Beim Reden denken, Neues finden

Schluss mit Realismus: Uwe Timm liest heute aus seinem 68er-Roman „Rot“  ■ Von Christiane Müller-Lobeck

Er ist kein Zyniker. Thomas Linde, Mitte 50, professioneller Grabredner und Jazzkritiker, hatte sich bloß „eingebunkert ... in eine Haltung selbstverordneter interesseloser Distanz“. Und erst recht nicht ist er im Ganzen resigniert, wie das Gros der bundesdeutschen Kritikerzunft ihm sogleich – in einer Geste der Verbrüderung – angedichtet hat. Thomas Linde setzt seine Lieblingsfarbe, die ambivalente, die dialektische Farbe Rot, gegen ein mögliches „Feelin' blue“. Der Ich-Erzähler in Uwe Timms jüngstem Roman Rot ist einmal, 1967 folgende, ein Kämpfer gewesen. Eine Rede, die er auf seinen gerade gestorbenen ehemaligen Kommilitonen Aschenberger halten soll, wird ihm zusammen mit den Fragen seiner um 21 Jahre jüngeren Geliebten Iris zum Anlass für eine Rückschau auf die Jahre, die wir „68“ zu nennen pflegen.

Bermerkenswert ist dieses Stück Erinnerungsliteratur weniger deshalb, weil es eine wirklich gründliche Trauerarbeit an 68 wäre oder an dem, was daraus wurde. Denn auch wenn gegen Ende hin das Sprechen darüber genauer wird und damit die Trauer des Erzählers immer tiefer, kommt Rot über längst stumpf gewordene Stichworte zum Thema selten hinaus. Bemerkenswert ist vielmehr die in dem Roman quasi Fleisch gewordene Reflexion über eine bestimmte Schreibstrategie. Und: das offenmütige Bekenntnis ihres Scheiterns.

Schon in Kopfjäger (1991) ließ Uwe Timm seine Hauptfigur, den flüchtigen Wirtschaftskriminellen Peter Walter, das eigene Sprechen „im“ Roman thematisieren. Mit Rot steigert Timm nun nicht nur das Niveau der Reflexion, er trägt sie thematisch auch dorthin zurück, wo sie zuletzt herkam: zur Studentenrevolte. Denn wo nicht gleich die Kunst in Alltagspraxis verwandelt werden sollte, da wollte man zumindest „ein neues Sprechen“ finden. „Beim Reden denken, Neues finden“, wie Thomas Linde den früheren Anspruch an einer Stelle nachformuliert.

Uwe Timm hat sich damals sehr schnell gegen eine neue Sprache entschieden: 1971 erschien mit seinem Heißer Sommer einer der frühesten Romane, die sich mit den 68ern beschäftigten. „Tod der Literatur“ war nicht seine Devise. Mit einigen Gleichgesinnten gründete er die AutorenEdition im Bertelsmann Verlag. Eine Präambel verpflichtete die Mitglieder der Gruppe zu der Aufgabe, sich der „gesellschaftlichen Probleme“ durch eine „realistische Schreibweise“ anzunehmen.

Allein schon der Form nach revidiert Rot den früheren Realismusentwurf, der aus Literatur beinahe dokumentarische Texte machte. Zwar ist das Erinnern noch realis-tisch eingebettet: Der Roman beginnt mit einem Verkehrsunfall, dessen Opfer Thomas Linde wird; in den Minuten des Sterbens spult seine Vergangenheit vor ihm ab. Doch dann folgen zahlreiche Vor- und Rückblenden, eingestreute Notizen Aschenbergers, oft zeigt nur ein Tempuswechsel den Beginn eines neuen Erinnerungsschnipsels an, Traumhaftes, manchmal sogar Fantastisches zieht an den LeserInnen vorbei, die Thomas Linde mit „sehr verehrte Trauergemeinde“ immer wieder direkt anspricht. Das Tempo der Wechsel und der Überblendungen von Szenen zieht zum Ende hin kontinuierlich an, bis die Zeitebenen mehr und mehr zusammenfallen.

Thomas Linde kommt dabei trotz aller Nachdenklichkeit bloß dazu, er könne wohl nicht mehr als ein Chronist sein. Damit ist er, der Grabredner, anders als der Monteur seines Erinnerungsflusses, dem „Diktat der Chronogie“ unterworfen. Zwar hat er den Zahn eines Pottwals aus dem Jahr 1851 auf seinem Schreibtisch liegen, doch an Melville reicht er nicht heran. Er hat in all den Reden, die er gehalten hat, „nicht gerade gelogen, aber doch ein wenig geschönt“: „Dann sagen Sie ruhig: Sozialkitsch.“

Und Thomas Linde glaubt, ein anderes Reden heute wäre nur möglich, wenn es damals, 68, gelungen wäre, „sich und die Verhältnisse, in denen die Leute leben“ zu verändern. Der Versuch, auf den Plakaten bei einer Demonstration „die Aussage zu verfremden, weil sie so plakativ war“ – gescheitert. Denn dass damals anders gesprochen wurde, ist „auch Iris nicht zu erklären“. Der Text Rot aber erhebt Einspruch gegen die Resignation, in der es sich ein solches Problembewusstsein von Sprache bequem gemacht hat.

heute, 20 Uhr, Literaturhaus