„Es mangelt an Fantasie“
Der Politikwissenschaftler Peter Grottian glaubt, dass die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg das große Berliner Protestpotenzial mobilisieren kann. Neben Demonstrationen müssten aber neue Protestformen gefunden werden
taz: Herr Grottian, Bundeskanzler Gerhard Schröder hat am Dienstag eine historische Zäsur verkündet: Deutsche Soldaten sollen im Krieg in Afghanistan eingesetzt werden. Wie reagiert nach Ihrer Einschätzung die Berliner Bevölkerung darauf?
Peter Grottian: Viele haben klammheimlich gehofft, dass es dazu nicht kommen wird. Aber jetzt sind wir mit dem Ernstfall konfrontiert, und es ist unklar, was das für Auswirkungen auf Menschen haben wird, die gegen diesen Krieg sind.
Wie groß schätzen Sie dieses Potenzial in Berlin ein? Ist die Hauptstadt pazifistischer als der Rest der Republik?
In Berlin ist das Potenzial an Menschen, die gegen den Krieg eingestellt sind, besonders hoch. Sowohl das alte Westberlin wie Ostberlin haben eine solche Tradition. Das zeigen verschiedene Untersuchungen. Auch das Wahlergebnis in Berlin, besonders der große Zuwachs der PDS, ist zum Teil darauf zurückzuführen.
Warum schlägt sich das in einer Wahl nieder, aber kaum in Protesten?
Das hat viele Gründe. Die Alternativen zu diesem Krieg im Sinne der Friedensbewegung sind schwierig zu formulieren und erscheinen vielen als unrealistisch. Allen ist klar, dass gegen den Terrorismus etwas getan werden muss und dass man das nicht mit ein paar Polizisten machen kann, die Bin Laden einfangen sollen.
Ist also Hilflosigkeit der Hauptgrund?
Ja, es gibt schon eine Hilflosigkeit. Andererseits hat sich nach vier Wochen Krieg auch gezeigt, dass so das Ziel nicht zu erreichen ist.
Aber zumindest auf der Straße schlägt sich diese Erkenntnis nicht nieder, beim Golfkrieg war das noch anders. Haben sich die Protestformen der Friedensbewegung überlebt?
Außer Demonstrationen haben die Kriegsgegner bisher im Gegensatz zur Friedensbewegung in den 80er-Jahren zu wenig Repertoire entwickelt, wie man Widerstand tatsächlich realisieren kann.
Gibt es denn das Potenzial für solche Proteste noch?
Das Potenzial ist in Berlin nach wie vor sehr groß, die jungen Leute sind ja auch aktiv.
Die Schüler. An den Unis passiert aber nichts. Warum?
Das ist schwer zu erklären. Die Debatten an den unterschiedlichen Fachbereichen sind gut besucht, die Auseindersetzung findet also statt. Aber Studenten haben in den vergangenen Jahren relativ oft erfahren, dass Streik oder Demonstrationen nichts ändern. Wenn jetzt aber der Ernstfall naht, können sich die Mobilisierungsmöglichkeiten auch dynamisieren.
Was müsste aus Ihrer Sicht jetzt passieren?
Ich plädiere sehr stark dafür, den Widerstand gegen den Krieg dahin gehend zu verschärfen, dass die Menschen in unterschiedlichen Arbeitsbereichen kundtun, dass sie mit diesem blinden, nicht zu rechtfertigenden und auch durch Völkerecht und Grundgesetz nicht gedeckten Krieg nicht mitziehen. Das können sie in ganz unterschiedlicher Form machen: Bundeswehrstandorte blockieren, die Arbeit niederlegen. Hier sind auch die Gewerkschaften gefragt.
Im Moment mangelt es an Fantasie, wie man seine Gegnerschaft so materialisieren kann, dass es der Gesellschaft wehtut und deshalb zur Auseinandersetzung zwingt. Es hat keinen Zweck, nur eine Demonstration zu machen. Es muss mehr passieren.
INTERVIEW: SABINE AM ORDE