piwik no script img

„Kreuzberg gibt es nicht“

Röhrender Hirsch der Bundesrepublik: Ein Gespräch mit Sven Regener über seinen Roman „Herr Lehmann“ und das Phänomen, dass sich viele Kritiker und Leser in ihm wiedererkannt haben

Interview DANIEL BAX

Ihr Roman „Herr Lehmann“ soll auf das erste Kapitel zurückgehen, das sie schon einige Jahre vorher geschrieben hatten . . .

Das stimmt. Ich habe die Geschichte mit dem Hund schon 1994 geschrieben. Sie war ein Geschenk für eine Freundin zu deren 30. Geburtstag – das ist auch der Grund, warum Herr Lehmann genau 30 Jahre alt ist.

Weil nun schon im ersten Satz der Himmel über Ostberlin auftaucht, der einen hellen Schimmer aufweist, und weil die Morgendämmerung gerade so einsetzt, kam ich später auf den Gedanken, dass das gesamte Buch in einer Zeit spielen könnte, in der Ostberlin noch eine ganz andere Bedeutung hatte als heute. Ich habe diese eine Geschichte und später auch den Roman vor dem Mauerfall angesiedelt, weil damals alles viel enger war – ein bisschen wie bei einem Theaterstück, das auf sehr engem Raum statt findet. Die Atmosphäre ist so dichter.

Diese Enge hat auch etwas Beklemmendes, oder?

Man kann das als beruhigend empfinden – oder als beklemmend, das hängt vom Leser ab. Ich bin da sehr liberal – ich versuche mich da jeder Wertung zu enthalten.

Das Milieu aber, das Sie in Ihrem Roman beschreiben, ist klar umrissen. Ist es das typische Kreuzberg vor dem Fall der Mauer?

Ich muss dazu sagen, dass ich nicht weiß, was typisch Kreuzberg ist. Kreuzberg ist ein Stadtteil mit 130.000 Einwohnern, was ist da typisch? Da gibt es weiße Gardinenzimmerkneipen, und in der Gegend, wo der Roman spielt, sind mindestens die Hälfte der Einwohner türkischer Herkunft. Dies spielt insofern keine Rolle, weil es für Herrn Lehmann keine Rolle spielt. Es gibt da keine Berührung, was auch meiner eigenen Beobachtung entspricht. Man trifft sich höchstens beim Obsteinkauf. Die Leute leben alle in ihren kleinen Welten: die Türken, Wim Wenders, die Off-Theater-Fredis, die Leute, die in Fabriken arbeiten, die Beamten. Ein typisches Kreuzberg gibt es deswegen nicht.

Ihr Buch wird aber gern als ultimativer Kreuzberg-Roman gelesen, oder?

Ich glaube einfach nicht, dass so ein Buch Rückschlüsse auf einen Bezirk zulässt. Ich selbst habe zwölf Jahre in Kreuzberg gewohnt, jetzt lebe ich im Prenzlauer Berg. Mir hängt Kreuzberg zum Halse raus. Man bettelt ja geradezu um Schläge, wenn man so ein Buch macht. Alle denken dann: „Kiezroman“. Es ist genau so legitim, ein Buch in Kreuzberg spielen zu lassen wie in Bielefeld. Ich weiß bloß nichts über Bielefeld. Für mich ist der Ort der Handlung das Unwichtigste an diesem Buch.

Für andere scheint dieser Aspekt sehr wichtig zu sein.

Kreuzberg ist eben ein Klischee, es ist sozusagen der röhrende Hirsch der Bundesrepublik. Jeder hat eine Meinung dazu. Im Grunde ist alles Quatsch. Keines dieser Bilder stimmt.

Sollte man den Roman dann als Buch über das Leben in der Bar lesen? Haben Sie selbst mal in der Gastronomie gearbeitet?

Nein, das habe ich nie. Aber ich habe auf der anderen Seite des Tresens harte Recherchen betrieben. Ich habe quasi zwanzig Jahre recherchiert für dieses Buch, auch in anderen Städten.teuer war das! Ich bin froh, dass ich das Geld mit dem Buch jetzt wieder reinbekomme. (lacht)

Aber natürlich ist „Herr Lehmann“ auch kein Buch über das Nachtleben, sondern ein Roman über Herrn Lehmann, ein Roman über einen konkreten Menschen und was dem so zustößt. Mein Eindruck ist, dass viele Leser das auch so wahrnehmen. Manche fühlen sich von ihm geradezu angepisst, manche meinen, ihn verteidigen zu müssen.

Hat er denn etwas Exemplarisches? Viele Kritiker scheinen sich geradezu euphorisch wiedererkannt zu haben in der Figur des Herrn Lehmann. So nach dem Motto: Der ist ja genauso wie wir!

Wenn ich Romane lese oder Platten höre, die mich berühren, hat das eben viel mit mir zu tun. Warum berührt mich das sonst? Dafür muss ich nicht in Kreuzberg leben oder in einer Kneipe gearbeitet haben. Es gibt einfach Dinge, die allen Menschen gemein sind. Beim Lesen stellt man oft fest, dass Menschen, die unter ganz anderen Bedingungen leben, in irgendeinem Punkt ganz ähnliche Empfindungen oder Probleme haben.

Mit Herrn Lehmann scheinen sich nun aber tatsächlich sehr viele Leser zu identifizieren, bedenkt man den Erfolg . . .

Der Roman ist extrem erfolgreich, der verkauft sich wie geschnitten Brot. Vielleicht haben viele Leute darauf gewartet, das es mal einen Roman gibt mit ganz normalen, einfachen Leuten. Denn das sind sie eigentlich alle: simple Menschen, die versuchen, sich auf simple Weise durchzuschlagen. Die Träume wie alle anderen auch haben. Welche Pläne, Möglichkeiten und Strategien hat man in seinem Leben unter bestimmten Bedingungen, welche nicht?

Wie würden Sie denn das Leben von Herrn Lehmann und seinen Freunden beschreiben?

Herr Lehmann lebt auf eine bestimmte Weise zwischen Kneipe, Nachtleben und in seinem Kiez, und er kommt damit sehr gut klar. Mit Fortlauf der Geschichte bricht seine Welt zusammen, was er eigentlich auch gut verkraftet. Was ihn stört, ist, wie die anderen ihn sehen. Die nehmen ihm nämlich nicht ab, dass er mit den veränderten Lebensbedingungen gut umgehen kann. Die glauben ihm das nicht, die gehen alle davon aus, das man so wie Herr Lehmann eigentlich nicht leben sollte. Das ist das Spannungsfeld: der Einzelne und das, was die Leute um ihn herum denken.

Warum haben Sie ein Buch geschrieben über jemanden, der so ein völlig unspektakuläres, ja spießiges Leben führt, und der nicht allzu viel erlebt zu haben scheint?

Dass Herr Lehmann nicht so viel erlebt hat, möchte ich nicht sagen. Er tritt uns ja schon recht fertig entgegen, ausgestaltet in seinen Vorlieben und Abneigungen und seiner Art zu leben. Da wird er gerade dreißig. Er ist nicht mehr in der Stadt, in der er aufgewachsen ist. Er hat offensichtlich einen komischen Weg dorthin gehabt, und er hat auch offensichtlich etwas anderes gelernt als das, was er beruflich macht. Er hat Speditionskaufmann gelernt. Das sind alles so Fragen, die könnte man sich ja noch mal in Ruhe beantworten vielleicht, mit einem anderen Buch oder zweien. Ich bin aber froh, dieses Buch zuerst gehabt zu haben, weil mit der Vorgeschichte vieles noch mal in einem ganz neuen Licht dasteht. Warum er wirklich so ein Problem mit dem Ku’damm hat: vielleicht nicht nur, weil er ein eingefleischter Kreuzberger ist. Oder wie er ein eingefleischter Kreuzberger geworden ist.

Ein zentrales Motiv bei Herrn Lehmann scheint mir das Warten zu sein, wie übrigens auch auf dem neuen Element-Of-Crime-Album. Warten, das was passiert . . .

Ja, aber das war schon auf früheren Element-Of-Crime-Alben ein häufig wiederkehrendes Thema. Das Warten spielt generell eine große Rolle in Liebesliedern, sicher nicht nur bei uns. Wenn man sich verliebt, ist damit ja immer viel Hoffnung verbunden. Hoffnung auf ein neues, besseres Leben zum Beispiel. Wenn man auf jemanden, in dem man sich verliebt hat, wartet, ist das eine Zeit, in der man nichts anderes tut als das. Die Gedanken können nur darum kreisen, das man verliebt ist und was man davon erwartet – dieser Traum von der Zukunft, die sich dadurch auftut.

Ist denn Herr Lehmann auch ein Fan von Element Of Crime?

Ich könnte jetzt sagen: Herr Lehmann kommt mir nicht vor wie der klassische Element-Of-Crime-Fan. Aber ich weiß auch gar nicht, wie der klassische Fan von uns aussieht.

Warum nicht?

Vielleicht, weil wir nie in einer bestimmten Szene einen Namen hatten. In den 80ern in Schöneberg und in Kreuzberg, da hörten viele Leute Rock, Avantgarde-Rock, Neubauten und so. Da haben wir nie so dazugehört. Wir galten mehr als die Typen, die Schlager machen. Wir waren keine Band, die als Berliner Phänomen gegolten hätte. Viele Leute in Westdeutschland wussten jahrelang nicht, wo wir herkommen.

Sven Regener liest am Sonntag, den 11. 11. um 20 Uhr im ColumbiaFritz, Columbiadamm 9–11, Tempelhof

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen