: Bananen für die Wessis
Natürlich wollte man zunächst die Mauer verteidigen, weil sie den Wohlstand der DDR vor geifernden Westdeutschen schützte. Doch für eine Million Calippos wirft man gerne seine Prinzipien über den Haufen: Eine fast klassische Ost-West-Geschichte
von STEPHAN ZEISIG
Schon als Kind waren mir Westdeutsche suspekt gewesen. Dazu trug in gewissem Maße meine vorbildliche sozialistische Erziehung bei, die ich in der DDR – damals immerhin die zehntgrößte Wirtschaftsnation der Welt – genoss. Das Sympathische an der DDR war dabei, sie trat so auf, dass davon niemand etwas mitbekam. Sie war eben sehr bescheiden und musste ihre nur so vor Kraft strotzende ökonomische Potenz nicht permanent jedem auf die Nase binden.
Der Westen schien das hingegen schon nötig zu haben. Wozu sonst wurden ständig Wessis in die DDR geschickt? Damit sie rumposaunten, dass die BRD die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt sei. Meine Eltern begegneten ihnen immer mit dem süffisanten Hinweis: „Platz drei ist aber gleichzeitig schon zweiter Verlierer.“ Beschämt kehrten die meisten Wessis wieder um. Überhaupt manifestierten sich auf den DDR-Besuchen ihre Komplexe: Westautos, Westklamotten und Westgeschenke sollten ihre Minderwertigkeitsgefühle gegenüber den Ostdeutschen kaschieren. Gierig rannten sie dann aber sofort in unsere Geschäfte, besetzten unsere Kneipen und Restaurants, angeblich, weil es bei uns alles viel billiger gab als bei ihnen.
In Wirklichkeit kamen sie aber nicht, weil es bei uns alles viel billiger gab, sondern weil es bei uns alles gab, woran es ihnen fehlte. Unsere niedrigen Preise erklärten sich mit einer simplen volkswirtschaftlichen Grundrechnung: Im Osten überstieg das Warenangebot deutlich die Nachfrage, folglich fiel der Gleichgewichtspreis auf ein niedriges Niveau. In der westdeutschen Mangelwirtschaft dagegen konnte das Angebot die Nachfrage nicht annähernd befriedigen, weshalb die Preise in die Höhe schossen. Darum verrohten dort die Sitten.
Das hatte ich in der Schule gelernt. Dekadenz machte sich breit. Viele Bundesbürger schmissen aus Faulheit ihren Job und meldeten sich arbeitslos. Diese Logik leuchtete mir ein. Dadurch erhielte auch die Mauer ihren Sinn. Sie war unser Schutz vor den geifernden, nach unserem Wohlstand gierenden Westdeutschen, die man sicherheitshalber weggesperrt hatte. Dieser Geniestreich Ulbrichts wird in den heutigen Geschichtsbüchern immer noch viel zu wenig gewürdigt.
Mit tropfendem Zahn und hungrigem Blick starrten die Westberliner so auch ununterbrochen von der Aussichtsplattform in der Bernauer Straße zu uns rüber. Voll Mitleid warf ich ihnen ab und zu ein paar Bananen zu. So rückten auch die Mauertoten in ein anderes Licht. Es war humaner, sie einen kurzen Tod sterben zu lassen, als wenn sie im Westen langsam und jämmerlich krepiert wären. Ihre Seelen waren eh verloren. Warum sonst hätten sie die Flucht gewollt?
So konnte ich mich über den Fall der Mauer auch nicht wirklich freuen. Zukunftsängste plagten mich: Würden sie rüberkommen, uns alles leer kaufen und uns die Arbeitsplätze wegnehmen? Gewiss war ich damals erst elf und solche Sorgen waren somit recht ungewöhnlich. Aber ich war halt schon immer eine sehr reife Persönlichkeit.
Mit meinen Befürchtungen hinsichtlich der Arbeitsplätze lag ich ja auch nicht mal so falsch. Von meinen Landsleuten erwartete ich daher am 9. November auch, dass sie sich mit ihren vereinten sozialistischen Kräften gegen den Einmarsch der kapitalistischen Barbaren stemmen würden. Doch weit gefehlt. Mit Entsetzen musste ich mit ansehen, dass sie nach Westberlin wollten und dafür sogar lange Schlangen in Kauf nahmen. Meine Eltern wetterten, denen gehe es nur um das Begrüßungsgeld.
Selbst vor unserem Haus in der Schwedter Straße 25 standen sie. Bis zum Senefelderplatz ging die Schlange. Mit Verachtung im Speichel spuckte ich auf sie runter. Sie bemerkten es nicht mal, vielleicht hielten sie es auch für Novemberregen. Ich schmiss gleich noch alle Lebensmittel hinterher. Anschließend musste ich einkaufen gehen. Mit der Zeit geriet ich ins Grübeln: Wieso kamen die Westberliner nicht zu uns? Was hielt sie dort? Mit meinem Grundschulkumpel machte ich mich rüber nach Westberlin. Zu meiner Verwunderung trugen alle dort Westklamotten, fuhren Westautos und über Wasser und Strom verfügten sie offensichtlich auch.
Diesen Schock mussten wir erst mal verdauen. Christian und ich betraten einen Laden in der Bernauer Straße, der uns wegen seiner Eisfahne aufgefallen war. „Hallo, wir wollen Eis!“ „Was denn für welches?“ „Na, haben Sie Soft- oder Kugeleis?“ „Ich habe Langnese.“ „Dann zweimal Langnese bitte!“
Es gab überraschenderweise zahlreiche Langnese-Modelle, was unsere Entscheidung erheblich erschwerte. „Welches ist denn am besten?“! „Alle, besonders die teuren.“
Wir nahmen dann Calippo, das für eine Mark zu haben war. Die Umrechnung fiel uns so leicht. Außerdem konnten wir uns kein teureres leisten, da unsere Eltern jeweils 99,50 DM unseres Begrüßungsgeldes einbehalten hatten, damit wir lernten, verantwortungsvoll mit Geld umzugehen.
Wir legten für ein Calippo-Kirsche zusammen. Sofort aktivierte sich unser Suchtpotential. Wir wurden Calippo-Kirsche-abhängig. Aus diesem Grund befürworteten wir fortan auch die Wiedervereinigung. Calippo war es wert, seine Prinzipien über Bord zu werfen.
Natürlich brauchten wir weitere Calippos. Leider hatten unsere Eltern für unsere 99,50 Mark schon anderweitig Verwendung gefunden. Doch wir entdeckten den grenzüberschreitenden Menschenschmuggel als Einkommensquelle. Wir würden welche rüberlotsen und dafür Westgeld verlangen. Zu der Zeit wurde nämlich an der Bernauer beim Grenzübertritt noch der Ausweis verlangt, während man an der Wolliner schon ohne rüberkam. Wir beide gehörten damals zu dem exquisiten Kreis weltweit, der davon wusste. Von zwei Männern wurden wir angesprochen, ob wir ihnen helfen könnten, ohne Ausweis nach Westberlin zu kommen.
„Ja. Aber wir machen das nur für Geld. Weil wir brauchen nämlich welches für Calippo.“ Wir sollten unsere finanziellen Forderungen präzisieren. „Na . . . äh . . . ’ne Million?“ „O. K.“
Unsere Calippo-Träume trieben Blüten. Eine Million Calippos. Wir würden uns dann zur Ruhe setzen können. Wir sollten das Geld aber erst auf der anderen Seite der Mauer bekommen, weil sie erst noch zur Berliner Sparkasse müssten, um es abzuheben. Das leuchtete uns ein. Wie sollten sie das Westgeld auch im Osten auftreiben? Sie mussten uns schwören, nicht zu lügen. Sie gaben uns ihr Indianerehrenwort, sie seien eigentlich Wessis, hätten sich aber aus Versehen in den Osten verirrt und seien dann nicht mehr zurückgelassen worden. Menschenschmuggel schien wirklich eine einträgliche Branche zu sein.
Wir verabredeten uns für drei Stunden später zur Geldübergabe. Wir erschienen pünktlich, sie nicht. Nach zwei Tagen gaben wir das Warten auf. Vielleicht hätten wir ihren osteuropäischen Akzent ernster nehmen sollen. Mit der baldigen Abschaffung sämtlicher Kontrollen brach uns dann auch die Geschäftsgrundlage weg. Wir hatten uns aber schon etwas anderes einfallen lassen: Ost- gegen Westgeld eintauschen. Wir bräuchten nur ein paar naive Wessikinder, die uns abnehmen würden, dass in einigen Jahren Ostgeld mal total viel wert sei.
Da ließe sich sicherlich ein für uns günstiger Umtauschkurs realisieren. Wir postierten uns vor einen Kindergarten: „Also. Passt auf! Hier habt ihr eine Ostmark. Ihr gebt uns 300 Westmark dafür. In zwei Jahren bekommt ihr für eure Ostmark 10.000 Westmark.“
Niemand von den Kindergartenkindern hatte gerade 300 DM dabei. Wir vereinbarten den Tausch deshalb für den folgenden Tag. Doch unser Trick hatte sich scheinbar herumgesprochen. Die Hälfte der Kinder erschien am folgenden Tag gar nicht und die übrigen kamen in Polizeibegleitung. Uns blieb da nur noch der Appell ans schlechte Gewissen der Westberliner. Wir verlegten uns aufs Betteln. Dazu stellten wir uns vor Kaiser’s in die Brunnenstraße, betont lumpig gekleidet – also in unserer Pionieruniform.
Das erhöhte den Mitleidseffekt. Mit einer Club-Cola wandten wir uns dann an die Kaiser’s-Kunden: „Ham Se mal ’ne Mark?“ Das Geld saß den Leuten damals noch recht locker. Unser Erfolg blieb auch den Punks nicht verborgen, die uns bald mit Berliner Pilsner statt Club-Cola nachahmten. So entstanden die Kaiser’s-Punks, die mittlerweile aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken sind.
Bald zeigten sich uns jedoch die Grenzen des Bettelsektors. Die Rezession ließ nicht lange auf sich warten. Wir gaben das Betteln auf, zumal uns die Währungsreform entgegenkam. Immerhin erhielt ich noch ein weiteres Jahr lang Osttaschengeld, weil meine Eltern vergessen hatten, das Bargeld umzutauschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen