: Ende einer Reise
Die Atommüllbehälter haben ihr Ziel erreicht. Und die Protestierenden? Eine Bilanz
aus Gorleben NICK REIMER
Das gehört zur Tradition des wendländischen Protests: Eine Stunde nach Einfahrt der Castoren treffen sich Bewegung und Journalisten in der Trebeler Bauernstube – zum Seelestreicheln. Eine Stunde nach Einfahrt hieß diesmal 8 Uhr in der Früh. Nicht einmal 70 Minuten hatte der kurz vor 6 Uhr am Verladebahnhof gestartete Konvoi gestern gebraucht, um das Zwischenlager zu erreichen. Das ist neuer Rekord.
Nein, an den Bewegung hat es nicht gelegen. Bereits am Dienstagabend war es etwa 300 Demonstranten gelungen, bei Laake auf die Transportstrecke vorzudringen und sich hier festzusetzen. Zwar scheiterten viele Demonstranten, die zur Besetzung vorstoßen wollten, an der bis tief in die Wälder hinein gestaffelten Polizei. Mit 9.000 Mann säumte die Ordnungsmacht die Straße. Bei fünf Grad unter Null hielten die Blockierer aber die ganze Nacht ihren Protestposten – bis in die Morgenstunden. Dann räumte die Polizei, schnell und effektiv.
Überhaupt, die Polizei. Zwar bilanzierte sie gestern, dass es auch bei diesem Transport zahlreiche Protestaktionen gab. Allerdings sei von keiner eine ernsthafte Behinderung des Transportes ausgegangen. Nicht zuletzt wegen des eigenen Konzepts, wie BGS und Einsatzleitung sich in Lüneburg gemeinschaftlich lobten, das „voll aufgegangen“ sei. Trotzdem benutzte die Anti-AKW-Bewegung bei ihrem Urteil Worte wie „erfolgreich“ und „zufrieden“.
„Wir haben gezeigt, dass der Protest lebendig und kraftvoll ist, erklärte Mathias Edler von der BI Lüchow-Dannenberg. Bundesweit seien 30.000 Polizisten im Einsatz gewesen, was den Preis – politisch wie fiskalisch – enorm nach oben treibe. Die Kosten dieses Transportes belaufen sich auf mehr als 50 Millionen Mark.
Warum es denn nicht gelungen sei, bundesweit zu mobilisieren, will ein Journalist in der Trebeler Bauernstube wissen. „Wir sind doch da!“, schreit es durch den Saal und: „Dreh dich mal um!“ Jochen Stay, Sprecher von X-tausendmal quer, räumt dann, als der Saal sich wieder beruhigt hat, aber ein, dass man erst sehr spät mit der Mobilisierung begonnen habe. „Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, dass jemand so verrückt ist, in dieser weltpolitischen Lage die Castoren auf Reisen zu schicken“, sagte Stay, der demnächst aus der Antiatombewegung zu Robin Wood wechseln wird.
Sowohl Edler als auch das Komitee für Grundrechte listeten eine Reihe von Beispielen auf, in denen demokratische Bürgerrechte extrem beschnitten wurden. „Die Polizei hat etwa am Verladekran ein Grundstück einfach requiriert.“ Der Eigentümer holte sich daraufhin einen Rechtstitel und einen Gerichtsvollzieher. Doch die Einsatzleitung der Polizei reagierte darauf überhaupt nicht. Edler: „Der Gerichtsvollzieher hätte die Polizei rufen müssen, um die Polizei von der Polizei räumen zu lassen.“ Edler forderte die Justiz zu unparteiischer Gerechtigkeit auf: „Wenn man sich die jüngsten Skandale in den deutschen AKWs ansieht, wird doch klar, dass nicht unser Protest, sondern ihre Machenschaften kriminell sind.“ Die Polizei sah das auch bei diesem Transport anders. Nach ihren Angaben wurden 780 Demonstranten in Gewahrsam genommen, 45 Festnahmen gab es. Die Zahl der eingeleiteten Strafverfahren wurde mit 103 angegeben, vier Beamte seien leicht verletzt worden. Die Sani-Gruppen des Protests sprechen in ihren Reihen von „dutzenden Verletzten“, die meisten davon seien Opfer von Hundebissen oder Schlagstöcken. Polizeieinsatzleiter Hans Reime hatte im Vorfeld gewarnt, dass diesmal „weniger Demonstranten, aber mehr Gewalt“ vor Ort sein werde.
Tatsächlich aber waren kaum millitante Gruppen im Wendland. Die Bewegung sieht sich daher in ihrem Urteil bestätigt, wonach die Polizei einen politischen Protest zu kriminalisieren versucht. Der nächste Transport wird voraussichtlich nicht sechs, sondern zwölf Casoren ins Wendland bringen. „Dafür muss erst noch verschiedenes Equipment beschafft werden“, sagte Jürgen Auer, Sprecher der Brennelementlager Gorleben GmbH (BLG). Mit dem nächsten Transport sei daher erst im zweiten Halbjahr 2002 zu rechnen. Zwar misstrauen die Castor-Gegner diesen Terminen. Doch für sie ist heute klar: Es wird keinen Gewöhnungseffekt geben. Unter tosendem Jubel erklärte Mathias Edler in der Trebeler Bauernstube: „Wir haben drei Bezirksregierungen, zwei Regierungspräsidenten und zwei Bundesregierungen überlebt. Und ganz sicher: Auf diese Liste kommt noch einiges drauf.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen