: Die Stille nach Mitternacht
Wenn die Nacht am tiefsten ist, kann die junge Frau endlich entspannen. Dabei ist die Gefahr längst gebannt: Ihre Mutter ist in der Psychiatrie. Eine Erzählung nach einem wahren Fall
von CORNELIA KURTH
Sie liebt die Nacht. Die Dunkelheit ringsum. Die Stille. So sehr liebt sie die Zeit nach Mitternacht, dass sie fast immer auf ihrem verschlissenen Ledersofa einschläft, morgens um drei oder um vier oder um halb fünf, denn sie gibt keine Minute der kostbaren Nachtwachheit unnötig her, auch nicht diese letzte Minute vor dem Einschlafen, die sie opfern müsste, um sich auf den Weg zur ihrer Matratze im Zimmer des kleinen Sohnes zu machen. Am Morgen dann weckt sie der Junge, weil er ja zur Schule gehen muss, und dann beginnt ihre Arbeit in einem Kinderhort, und dann muss Mittagessen gemacht werden und dann die Schularbeiten des Sohnes kontrolliert, Abendbrot, Gutenachtgeschichte, warten, dass es spät wird, spät nachts. Wie leicht man mit drei Stunden Schlaf auskommen kann, wenn kein Weg daran vorbeiführt.
Noch nie haben ihr die Dunkelheit und Stille der Nacht Angst eingejagt. Nicht, als sie von Zuhause abgehauen war und in den Parks übernachtete. Nicht, als sie nachts aus dem Fenster des Jugendheimes stieg. Nicht, als sie, geheimer Gast in einem Asylbewerberheim, hochschwanger war und niemand es wissen sollte.
Wenn sie genug Geld hätte, um Kleidung ihrer Wahl zu kaufen, sie würde nur schwarze Kleidung tragen. „Schwarz, das ist keine Farbe der Angst für mich, das ist schon immer meine Schutzfarbe gewesen“, sagt sie – und hat ja auch große dunkle Augen und lange dunkle Haare und würde vielleicht am liebsten ganz schwarz und dunkel aussehen, ein schwarzes Loch, in dem die Blicke der Menschen untergingen, ohne sie wahrzunehmen. (Ihre Augen aber leuchten, und ihr Lächeln ist hell, und wenn sie mit ihrem achtjährigen Sohn durch die Stadt geht, dann drehen sich die Leute um und denken: „Wie nett, dass sich die große Schwester so um ihren kleinen Bruder kümmert.“)
Der Vater ihres Sohnes ist Kurde, sitzt schon seit vielen Jahren im Gefängnis, war Drogenhändler und selbst drogensüchtig, hat sie belogen, betrogen und bedroht. Eine kurze Zeitlang aber hatten sie zusammengehört als junge Ausgestoßene, die in trotziger Euphorie ihr Leben im Rausch einfach verbrennen wollten, weil es zu sonst nichts gut zu sein schien. Sie vermeidet es, an ihn zu denken, und kann ihn doch nicht hassen, weil es ohne ihn den Sohn nicht gäbe, das Kind, um dessentwillen sie sich dem Tag stellt und ohne das sie wahrscheinlich nicht mehr leben würde.
Wenn sie jemanden hasst, dann ihre Mutter. Ihre wahnsinnige Mutter, die sie so hassen muss, wie sie die Dunkelheit liebt und lieben muss, von Kindheit her, dieser Kindheit, die ein einziger Schrecken war. Angst und Schrecken und Verstecken vor einer Mutter, die nur spät nachts Ruhe gab und nicht mehr die von außen abgeschlossene Kinderzimmertür öffnete, um der Tochter die Bettdecke wegzureißen und zu schreien: „Hier liegst du, kleines Monster, warte, ich werde den Benzinkanister holen und dich einfach verbrennen, damit du verschwindest, als hätte es dich niemals gegeben!“
Irgend-, irgendwann kam ihre Mutter in die Psychiatrie. Aber da war es schon längst zu spät. Da konnte es schon kein Vertrauen mehr geben zum Vater, der sich mit ihr und dem jüngeren Bruder vor der brüllenden Mutter im Heizungskeller versteckte und den Kindern sagte: „Es ist schon alles in Ordnung so. Wir können nichts machen, denn sonst bekommt sie das Haus.“
Und es konnte auch kein Vertrauen geben zu anderen Menschen, Lehrern vielleicht, die sich einwickeln ließen von dem selbstbewussten Auftreten der Mutter. Oder zu anderen Mädchen, die manchmal klingelten, aber nie eingelassen, sondern mit harmlos-netten Worten abgespeist wurden, so nett, dass sie der Mutter glaubten und nicht der Tochter, die ja auch seltsam war, immer dieselben Klamotten trug, zum Beispiel, und ungewaschene Haare hatte, zum Beispiel, und nie zum Spielen rauskam, zum Beispiel, und heftig auffuhr oder bitter schwieg, wenn sie in der Schule erzählen sollte, wie ihr Wochenende gewesen war.
Nachts, ganz spät in der Nacht, wenn in der Wohnung alle Lichter aus waren und die hastig rauhe Stimme der Mutter endlich schwieg, da setzte sie sich ans Fenster ins Licht der Straßenlaterne (eine eigene Lampe gab es nicht) und schrieb und zeichnete oder, später, las sie die Schriften des Gesundheitsministeriums über die Gefahren des Drogenmissbrauchs. Um nach irgendeiner Medizin zu suchen, die das Leben erträglich machen konnte. „Ich habe alle Drogen genommen, die ich nur irgendwie kriegen konnte, ich habe sie nicht genommen, wie harmlose Bürgerskinder sie nehmen, um ihrer Langeweile zu entkommen, ich nahm sie wie eine Medizin, um zu überleben.“
Wenn der Frühling kommt, dann klagt sie, wie andere Leute klagen, wenn es Herbst wird. Wenn die Sonne scheint, wird ihre Laune trüb, wie die Laune anderer Leute trüb wird, wenn es regnet. Ihr Lieblingsland ist Island, weil es dort kalt ist und stürmt und regnet und man niemals, so glaubt sie, T- Shirts anziehen muss, kurzärmelige T-Shirts, die sie nicht tragen kann, weil ihre Mutter ihr Tag für Tag und Jahr für Jahr einbläute, dass sie ein Wechselbalg sei, ein Affenkind, mit widerlich langen Haaren auf Armen und Beinen, deren Anblick Übelkeit verursacht: „Du bist zum Kotzen!“
„Siehst du denn nicht, dass deine Mutter verrückt war? Dass sie eine Psychose hatte und dringend Hilfe gebraucht hätte? Du musst sie nicht hassen, eigentlich.“ Das könnte vielleicht eine Freundin sagen. Aber dann würde sie lächeln, nachsichtig: „Was nützt mir das?“
Sie wurde immer eingesperrt. Aus der Tiefkühltruhe klaute sie Brotscheiben, die sie zum Auftauen auf die Heizung legte. Sie wusch ihre Unterhosen im Waschbecken ihres von außen abgeschlossenen Zimmers, das einen gekachelten Fußboden hatte. Sie wurde schrecklich verprügelt, und auch ihr jüngerer Bruder wurde verprügelt, aber nicht so schlimm wie sie, weil nicht er es gewesen war, der die Mutter gezwungen hatte, den Vater zu heiraten, den feigen Vater, der viel arbeitete und viel trank und nichts zu antworten wusste, wenn die Kinder fragten, warum er denn den Heizungskeller von innen abschließt, wenn es doch nichts Wirkliches zu fürchten gibt vor der Mutter, die vor der Tür schreit.
„Einmal“, sagt sie, „wurde ich losgeschickt, um mit den anderen Kindern zusammen die kleinen Kartoffeln auf dem Kartoffelacker aufzusammeln, wir gingen hinter dem Kartoffelsammeltrecker her und durften die ganz kleinen Kartoffeln einsammeln. Das ist die einzige gute Erinnerung, die ich an meine Kindheit habe.“
Als die Mutter schließlich in der Psychiatrie behandelt wurde, da hörte die Tochter nicht das Wort „Psychiatrie“. Sie hörte nur „Endlich, endlich weggesperrt!“. Und findet das richtig. Nie wurde in der Familie über die Familie ihrer Mutter geredet. Sie weiß nichts von ihr und ihrer Vergangenheit. Und will es auch nicht wissen, weil es keine Entschuldigung geben soll.
Es gibt die Nacht. Die Dunkelheit ringsum und die Stille. Stille, die auch entsteht, wenn sie über Kopfhörer die Musik der „Toten Hosen“ hört und dabei rasend malt und schreibt und sogar vergisst, dass morgens um sieben ihr Sohn aufstehen muss und sie mit ihm. Dass sie ihrer Arbeit im Kinderhort nachgehen muss, für zwei Mark die Stunde, vom Sozialamt verordnet, eine gute Arbeit, die sie gut macht, schon seit drei Jahren, das ist nicht gerecht, für zwei Mark die Stunde, aber sie will sich nicht wehren, denn die Menschen sind schlecht, und es gibt nur die dunkle Nacht, in der sie vergessen kann, dass das so ist.
CORNELIA KURTH, 41, ist freie Journalistin. Die taz.mag-Autorin hat zuletzt das Buch „Ein Jahr mit 90 Tagen“ (Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2001, 155 Seiten, 12,90 Mark) veröffentlicht
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