„Eine feinfühlige Disziplin“

Gespräch mit Skisprung-Bundestrainer Reinhard Heß über den anhaltenden Schanzenboom, das Seelenleben seiner jungen Hüpfer und die Grenzen des Fliegens

Im finnischen Kuopio starten heute nicht nur Kombinierer und Langläufer in die Olympiasaison, sondern auch die Skispringer. Auf dem in den letzten Jahren ebenso populären wie erfolgreichen deutschen Team ruhen die größten Erwartungen, auch schon beim Auftaktspringen, das in den letzten drei Jahren von Martin Schmitt, davor zweimal von Dieter Thoma gewonnen wurde. Aufgabe von Bundestrainer Reinhard Heß ist es, dafür zu sorgen, dass bei allem Trubel das Sportliche stimmt.

taz: Herr Heß, am Wochenende beginnt die Saison – und Ihr Schützling Martin Schmitt wird sicher wieder mit Gekreische und Slogans wie „Martin, ich will ein Kind von dir“ empfangen. Ist die Grenze zwischen Leistungssport und Popkultur überschritten?

Reinhard Heß: In seiner Kompaktheit hat uns der Boom sicher überrascht. Star ist ja immer auch, wen man als Star präsentiert bekommt – und da sind wir als ehemalige Randsportart schon angetan, dass man sich plötzlich für uns interessiert. Aber besonders für Martin ist es nicht immer leicht. Er muss sich abschirmen, um sich überhaupt auf die Springen konzentrieren zu können.

Das birgt auch wieder Konflikte . . .

Natürlich. Die Öffentlichkeit verlangt, dass wir ganz für sie da sind. Aber sie verlangt auch, dass wir immer wieder auf dem Treppchen stehen. Und das wiederum geht nur, wenn man den Sport ganz in den Mittelpunkt stellt.

Dieter Thoma hat gesagt: „Skispringer müssen sensible Typen sein.“ Trifft das zu auf Martin Schmitt, Sven Hannawald und Co.?

Oh, die sind sehr sensibel. Das ist wie Flöhehüten manchmal. Da wird viel diskutiert, da ist auch mal einer den Tränen nahe. Skispringen ist eine sehr feinfühlige Disziplin, nichts für grobschlächtige Typen.

Und trotzdem muss jeder Springer auch ein harter Hund sein, muss immer wieder die Angst überwinden. Das ist das Besondere: Man ist beides in einer Person.

Sind Sie denn eher Techniktrainer oder Seelenklempner?

Harmonie ist ganz wichtig, und die Grundlage hierfür ist Vertrauen. Auf dieser Grundlage verkraftet man Erfolge und man verkraftet auch Misserfolge. Das hat sich im letzten Winter gezeigt: Ende Januar war Martin Schmitt Letzter in Sapporo. Letzter! Aber wir haben die Ruhe bewahrt, und er wurde drei Wochen später Doppelweltmeister in Lahti ...

Im Skifliegen liegt der Weltrekord mittlerweile bei 225 Metern, aufgestellt vom Österreicher Andi Goldberger. Wie weit wird der Mensch in Zukunft fliegen können?

Man wird Schanzen bauen für 250, vielleicht 300 Meter – fürchte ich. Denn wir müssen immer daran denken, dass wir es mit Menschen zu tun haben und dass auch das Material Grenzen hat. Ich möchte nicht, dass bald mal einer am Boden liegt und wir müssen den Deckel drauf machen.

INTERVIEW: CLAUDIO CATUOGNO