ulrike winkelmann über Golf: Uns hat das Heulen nicht geschadet
Viele Jungs um die 30 leiden am Weltschmerz und an schlechter Laune. Die Armen sind falsch orientiert
Meinen Freund C. habe ich langsam im Verdacht, heimlich Guido Westerwelle zu verehren. Warum sollte er sonst mit über dreißig Jahren so aggressiv auf Akademikereltern reagieren, nur weil sie Frankfurter Rundschau lesen? Es mache ihn außerdem wahnsinnig, sagt er, wenn SPD-wählende Studienrätinnen italienische Kellner damit beeindrucken wollen, dass sie „Grazie“ und „Prego“ mit Zungen-rrrr aussprechen. Es klingt aber eigentlich so, als wenn überhaupt jeder Mucks von SPD-wählenden Studienrätinnen ihn wahnsinnig machte.
Mein Kollege R. beklagt sich, dass ihm „Die letzten Kinder von Schewenborn“ die Jugend verdorben habe. Dieser Jugendbuchklassiker der 80er-Jahre schilderte das trostlose Leben nach dem Atomschlag. Man konnte es damals gut mit „In dreihundert Jahren vielleicht“ kombinieren, einem Buch, das die Erfahrungen einiger Teens im Dreißigjährigen Krieg schilderte. R. behauptet, mit 15 Jahren hätte man ja nicht gedacht, dass es die Welt überhaupt noch gäbe, wenn man langsam dreißig wird.
An jeder Ecke steht einer um die dreißig, der behauptet, dass sich unsereins nicht mehr retten könne vor dem schlechten Gewissen, das unsere waldschützenden Lehrer uns in den 70er-und 80er-Jahren angezüchtet haben. Der publizistische Trendscout Florian Illies schreibt sogar Anleitungen, wie man sich aus dem Öko-Schulddilemma – wie viel Müll muss ich sortieren, um den letzten Urlaubsflug wieder wettzumachen? – befreit. Ich halte fest: Den jungen Männern fehlt es offenbar an Orientierung. Sie behaupten, man habe ihnen den pursuit of happiness versaut. Ihre Genussfähigkeit sei verstellt von dem Bewusstsein, nicht genug gegen das Elend der Welt gekämpft zu haben.
O.k.: Erst einmal ist es ja nützlich in Sachen Abgrenzung, Eltern zu haben, die 1968 nicht zum Anlass genommen haben, ihren Musikgeschmack zu verändern, das gebe ich sofort zu. Wessen Eltern, Stones hin, Beatles her, bis zum heutigen Tage auf Volksmusik bestehen, der hat selbstverständlich größere Chancen auf Meinungsbildung. Es ist überdies nützlich, eine Religionslehrerin gehabt zu haben, die sagte, Kaugummi verklebt das Gehirn, und uns zwang, den gesamten Lebensweg Mose als Bildergeschichte zu malen. Außerdem ist es nützlich, einen Lateinlehrer gehabt zu haben, der Bundeswehroffizier der Reserve war und uns im Klassenraum strammstehen ließ – hinsetzen durfte sich, wer auf Zuruf einer Vokabel als Erster die richtige Übersetzung gebrüllt hatte. Der Letzte, der noch stand, wurde auch den Rest der Stunde gequält. All so etwas hilft später im Leben bei der Unterscheidung zwischen Gut (Kaugummi) und Böse (WDR 4 und alle anderen Schlagersender) und schärft das Spaßbewusstsein.
Aber: Ich bestreite, dass eine Aufzucht in der späten Bundesrepublik West unter den Bedingungen von Bettina Wegner, den letzten Kindern von Schewenborn und dem unbedingten Glauben an die Birkenstocksandale uns Ausgeglichenheit und Lebensfreude geraubt hat. Ja, ich habe geheult, als ich das erste Mal das Lied „Karl der Käfer“ gehört habe (Karl der Käfer wurde nicht gefragt / Man hat ihn einfach fortgejagt / usw. – Es ging um das Drama der Naturzerstörung am Beispiel eines Käfers), und wir haben geheult, als meine beste Freundin F. und ich im Spätapril 1986 von ihrem Papa aus der Dorfdisko gescheucht wurden, weil der Regen nun wahrscheinlich atomar vergiftet sei. Aber F. und ich haben ja auch in dem Film „Amadeus“ geheult, weil Mozart in einem Mehrwegsarg zum Friedhof transportiert und seine unbesargte Leiche dort in eine Kalkgrube gekippt wurde.
Soll heißen: Wir haben halt immer geheult, wenn etwas objektiv traurig war, unabhängig davon, ob uns daraus die Verantwortung für das Weltübel zuwuchs oder nicht. Erstens das. Und zweitens: machte die Abschaffung des Weltübels Spaß. Als Mitglieder der Greenpeace-Kontaktgruppe Paderborn haben wir in der Fußgängerzone Baustellenzäune ins Karree gestellt und Omas alten Nerz reingehängt, um gegen Massenpelztierhaltung zu protestieren. Wir sprachen Pelzmantelfrauen an, ob sie sich nicht schämten, und verteilten selbst getippte Flugblätter mit Informationen über Pelztierfarmen in Südniedersachsen. Das war großartig! Die Greenpeace-Zentrale in Hamburg hatte uns zuvor erklärt, dass wir zwar die Rettet-die-Wale-Flugblätter auch mit verteilen dürften, aber Pelztierschutz sei kein Kampagnenthema, deswegen dürften wir auf keinen Fall die Greenpeace-Aufkleber verkaufen oder das Greenpeace-Transparent um den Infostand wickeln. Auf diese Weise konnten wir sogar über die blöden Hamburger Zentralisten herziehen und in beiden Richtungen Recht haben.
Aufwachsen in den 70ern und 80ern war super. Es gibt überhaupt keinen Grund zur Desorientierung, und sozialdemokratische Eltern und Lehrer sind nicht schuld daran, wenn der dauernd drohende Atomkrieg irgendwem die Laune verhagelt hat. Die, die sich jetzt beschweren, hätten dafür doch jeden Mist zum Anlass genommen. Die buchstabieren Jungs-Weltschmerz mit „Verdamp lang her“, dabei wollen sie bloß Westerwelle verehren gehen. Sollen sie doch.
Fragen zu Golf?kolumne@taz.de
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